Montag, 3. Juni 2019

Das Grau(en) der Dörfer

Es ist eine interessante Erfahrung, zu Fuß durch die Dörfer zu gehen; denn dann bieten sich interessante Einblicke in dörfliches Leben. „Interessant“? Ich könnte auch schreiben: Erschreckend, aufregend, ernüchternd. Und ja, auch manchmal hoffnungsvoll. Weshalb diese skeptische Einführung und aus welcher Perspektive geschrieben? Unsere Welt steht vor großen Herausforderungen, unsere Umwelt ist gefährdet und damit unsere Zukunft. Okay, das können andere besser formulieren, aber seltsamerweise sieht niemand auf ein paar Details, die sich aufdrängen, wenn man nicht nur über die Dörfer geht, sondern auch noch zum Vergleich Landkarten ansieht. Das Dresdner [Kartenforum] bietet hierfür eine faszinierende Grundlage. Der Vergleich der Siedlungsverhältnisse zwischen etwa 1900 (im Norden meist die Preußische Landesaufnahme aus der Zeit um 1900) mit den heutigen Siedlungsverhältnissen zeigt erschreckende Ergebnisse, die besonderes bei Städten auffallen. Kleinstädte umfassten um 1900 häufig noch den frühneuzeitlichen Umfang, größere Städte waren zwar in dieser Zeit über die frühneuzeitlichen Grenzen hinausgewachsen, aber sie waren meist noch umgeben von einer stadtnahen Landschaft aus Feldern und Dörfern. Selbst Berlin war damals nur teilweise über den S-Bahn Ring hinausgewachsen.
In den 100 Jahren danach sind fast alle Siedlungen in einem dramatischen Umfang gewachsen, aber nicht nur die größeren Städte, die die einst umliegenden Dörfer längst eingemeindet und zu dicht bebauten Stadtteilen gemacht haben, sondern auch die kleinen Städte und die Dörfer sind weit über ihre früheren Grenzen hinaus gewachsen. Nie dürfte die Siedlungslandschaft in so kurzer Zeit so gravierend verändert worden sein.
Was das bedeutet, kann man bei den bewußten Spaziergängen gut beobachten. Neben den alten Dorfstrukturen gibt es mindestens zwei neue „Ringe“, die die Dörfer verändert haben: Da sind zum einen die Siedlungen, die in den späten 1950er und den 1960er Jahren meist für die Flüchtlinge gebaut wurden und die sich meist durch eine eher eintönige Gestaltung auszeichnen, auch wenn jeder Hausbesitzer versucht hat, Individualität umzusetzen. Dann kommen die Neubausiedlungen seit den 1970er Jahren, die gerade in den letzten Jahren durch weitere Siedlungen ersetzt worden sind. Sie könnten auch in Kleinstädten oder selbst am Rande von Großstädten stehen. Es sind eben Eigenheime, möglichst „individuell“ gestaltet, von Dörflichkeit ist bei ihnen meist nichts zu sehen. Diese neuen Siedlungsteile machen in den meisten Dörfern aber den Großteil der bebauten Flächen aus. Mit den schönen Bildern von Dorf hat das jedenfalls nichts zu tun.
Was ich aber jenseits der manchmal sehr, sagen wir mal „experimentellen“ architektonischen Gestaltung problematisch finde, ist etwas anderes. Würde man die neuen „Dorfbewohner“ fragen, weshalb sie nicht in der Stadt wohnen, dann dürfte die Natur keine unwichtige Rolle spielen. Aber bitte: Weshalb vernichtet ihr in ihren Vorgärten und Nachgärten möglichst alles Natürliche? Der kurzgeschorene Rasen und das Immergrün wirken ja schon fast natürlich angesichts des neuesten Trends, möglichst jede Fläche auch jenseits der meist großzügig bemessenen Pflasterungen für das liebe Auto nun mit Folie zu unterlegen und dann graue Steine darauf zu packen. Dasselbe Spiel wiederholt sich bei Mauern. Alles muss offenbar schön steril sein auf dem Land im Reiche der Neubürger. Was bitte geht hier vor?
Was das Ganze noch problematischer macht: Die Neubausiedlungen werden meist auf Ackerland angelegt - alle wollen natürlich produzierte Nahrungsmittel essen, aber niemand fragt sich, woher die kommen sollen, wenn immer mehr Felder zu sterilen Neubaugebieten werden. Wenn dann wenigstens möglichst viel naturnahe Flächen auf den Grundstücken entstehen würden, aber hier scheint das Graue(n) gerade derzeit auf dem Vormarsch zu sein.