Sonntag, 3. April 2022

Der Wald, das Land und das Dorf

Durch einen Artikel in der Berliner Morgenpost bin ich heute auf Tony Rinaudo gestoßen.(fn) Tony Rinaudo hat nicht nur eine sehr effektive Methode der Aufforstung gefunden, sondern weist auch auf die enorme Wirkung von Wald bzw. Bäumen für die Ernteerträge bei hohen Temperaturen hin. Mich hat das sehr nachdenklich gemacht, vor allem, weil ich immer noch im Hinterkopf die schaumburgische Forstordnungen und andere Anweisungen zum Umgang mit dem Wald habe. Um 1600 war der Wald eine nicht nur sehr wichtige Ressource für das menschliche Überleben, er war auch eine vielfältige Ressource, da er nicht nur Holz bereitstellte (das viel intensiver als heute genutzt wurde), sondern auch für die Landwirtschaft wichtig war, etwa bei der Hude. 

Das führt mich weiter zu der Frage, ob unsere Umweltpolitik nicht zu sehr aus einem Blickwinkel des Überflusses betrieben wird. Wir wollen zwar gern Vielfalt erhalten bzw. wiederherstellen, denken dabei aber nicht an unsere Versorgung mit Nahrungsmitteln. Wir haben uns in einer historisch und weltweit gesehen einmaligen Situation befunden. Lebensmittel gab und gibt es noch immer genug. Die Frage nach ihrer Erzeugung und ihrer Herkunft spielt zwar in den Debatten eine Rolle, aber dass Lebensmittel knapp (und damit zumindest sehr teuer) werden könnten, darüber wurde kaum diskutiert.

Die aktuellen Entwicklungen zeigen aber, dass wir uns mehr Gedanken darüber machen sollten, wie wir unsere Versorgung mit Lebensmitteln sichern können. Die immer noch tief verwurzelte Vorstellung, dass Ackerland problematisch sei (da belastet) und nur naturnahe Flächen gut seien, findet sich bis in die jüngsten Leserbriefe etwa der Schaumburger Nachrichten. Der Wald bzw. Bäume spielen in diesen Überlegungen dagegen gar keine Rolle. Wald ist Freizeit und Holzlieferant, mehr nicht. Für den Schutz unserer Natur und unserer Existenz, so scheinen die meisten zu glauben, brauchen wir kein Ackerland und der Wald ist eher ein wenig Zierde, trotz des aktuell katastrophalen Zustand des Waldes. Bäume werden ohne große Bedenken weggeräumt, wenn sie im Wege stehen. 

Von unseren Vorfahren trennt uns in diesen Punkten ein tiefer Graben. Für sie waren Ackerland und Wald überlebensnotwendig. Sie mussten mit sehr begrenzten Mitteln umhegt und umsorgt werden, damit eine vier- bis fünfmal kleinere Bevölkerung einigermaßen über die Runden kommen konnte. Sie lebten allerdings auch in einer anderen Landschaft, die nicht ansatzweise so stark bebaut war wie heute, die vielfältiger war mit starkem Baum- und Buschbewuchs, kleineren Feldern und großen Wäldern. 

Wir stehen vor riesigen Herausforderungen und es ist deshalb notwendig, unsere Landschaft anders zu denken und anders mit ihr umzugehen. Äcker sind keine Restgröße, mit der wir machen können was wir wollen, sei es sie bebauen, zu asphaltieren oder in vermeintlich naturnahe Flächen zurück zu versetzen. Bäume und Wälder sind mehr als Holzlieferanten und Freizeitorte. Beide sind überlebensnotwendig. 

Erste Informationen zu Rinaudo finden sich hier: https://www.geo.de/natur/nachhaltigkeit/20772-rtkl-tony-rinaudo-dieser-mann-verwandelt-wueste-bluehende-landschaften

Sonntag, 20. März 2022

Gehen

Gehen auf dem Land, gehen in der Stadt

Vor über 30 Jahren gab es eine Broschüre, in der das Leben auf dem Land und mit dem in der Stadt miteinander verglichen wurde. Das betraf auch das Gehen. Auf dem Land sah man einen Fuß in einem Holzschuh, in der Stadt einen Frauenfuß in High-Heels. Nun traf dieser Vergleich schon damals nicht zu. Und heute erst recht nicht. Gehen in der Stadt bedeutet, gehen in Sneakern, nur selten in hochhackigen Schuhen. Und auch in den 1980er Jahren ging auf dem Land kaum noch jemand in Holzschuhen. Und heute? Genau genommen geht man oder frau gar nicht mehr. Mann oder Frau fährt. Wobei „Fahren“ nicht im Sinne der Bergleute gemeint ist, für die jede Art der Fortbewegung „Fahren“ ist, sondern ganz konkret. Während in der Stadt auch noch mit dem Rad gefahren wird, findet das auf dem Land nur selten statt. Fahren heißt ganz konkret Autofahren. 

Das Autofahren ersetzt nahezu das Gehen, manchmal wirkt es so, als seien selbst wenige Meter nicht mehr zumutbar. Spricht man diese Fahrer an, so kommt relativ häufig entweder das Argument, dass man auf dem Lande eben fahren müsse oder es alten Menschen nicht zumutbar sei, zu gehen. Das letzte Argument ist schon interessant, denn zumindest in der Kleinstadt, in der ich seit ein paar Jahren lebe, sind die größte Gruppe der Fußgänger die Rollator-Geher, denen übrigens ein furchtbares Kopfsteinpflaster zugemutet wird - das war mal die neueste Errungenschaft der Stadtplaner vor 30 Jahren. Die zweite Gruppe der Geher sind dann noch Schüler. Ansonsten wird Auto gefahren! Und das erste Argument überzeugt mich nicht wirklich. Klar, gibt es auf Land keinen so gut ausgebauten ÖPNV wie in der Stadt, aber das ist auch eine Folge des verbissenen verteidigten PKW-Verkehrs. Die Fahrt mit einem Bus ist nicht nur unpraktisch, sondern auch - im Vergleich zur Stadt - unverschämt teuer. Die mittlerweile Fahrdienste für Ältere sind nett, aber lösen das grundsätzliche Problem nicht. 

Die derzeit so beliebten Neubaugebiete werden das Problem noch verschärfen, denn während die Kommunen gezwungen sind, Kitas zu bauen und zu unterhalten, gibt es keinen Zwang, Geschäfte für den täglichen Bedarf im eigenen Ort vorzuhalten. Selbst wenn man ohne Probleme zu Fuß zum nächsten Supermarkt gehen könnte, wird gefahren. Es sei ja so viel zu tragen, da brauche man das Auto, wird dann gesagt. Ach, habt ihr eine Ahnung, was man alles tragen kann!

Dieser Aspekt geht aber noch weiter. Betrachtet man die Lebensverhältnisse im „alten Dorf“, also dem Dorf, wie es etwa bis in die 1950er Jahre in Resten noch bestanden hat, dann war ein zentrales Kennzeichen der vorsichtige Umgang mit Ressourcen. Das war im 20. Jahrhundert noch ein Erbe der vorindustriellen Gesellschaft, in der alles knapp war: Menschen, Energie, Boden. Spätestens seit den 1950er Jahren setzte ein struktureller Veränderungsprozess ein. Das Dorf verlor immer mehr seine zentrale Funktion als Nahrungsmittelproduzent (auch wenn es schon seit der Frühen Neuzeit auch andere Funktionen hatte). Landwirtschaft wurde zunehmend marginalisiert, das Dorf verlor seine bisherige ökonomische Funktion als Standort landwirtschaftlicher Produktion und wurde Wohnstandort. Zudem ermöglichte die zunehmende Individualmotorisierung neue Formen der Arbeit und der Versorgung mit Verbrauchsgütern. Das Dorf wurde Wohnort - die Dörfer der DDR bildeten bis zur Wende eine interessante Alternative. Mit der Zunahme gesamtgesellschaftlichen Wohlstands veränderten sich nur die Handlungsmuster und Lebensläufe von Dorfbewohnern, sondern auch der Umgang mit Ressourcen. Knappheit verschwand aus dem Horizont. Bis dahin innerörtliche Arbeits- und Kommunikationsprozesse wurden immer stärker nach außerhalb  verlagert. Und das ging nur mit dem Auto. Der steigende Wohlstand auch im Dorf führte dazu, dass die Anteile an Eigenversorgung, die bis in erste Nachkriegszeit für praktisch alle dörflichen Haushalte nicht nur typisch, sondern auch lebensnotwendig waren, verschwanden. Wir können das heute sehr schön sehen bei den Flüchtlingssiedlungen der 1950er Jahre. Die Häuser hatten immer  ein Stallgebäude (entweder angebaut oder separat) und einen großen Garten. Hier wurde ein Schwein gehalten (oder auch zwei), im Garten wurden Gemüse und Kartoffeln angebaut. Das machte allerdings viel Arbeit, besonders für die Frauen. Ich erinnere mich noch gut an meine Großmutter, die im Sommer frühmorgens aufstand, um etwa Erbsen zu pflücken, die dann von ihr ausgepuhlt wurden, später dann eingekocht. Und ganz selbstverständlich wurde von uns Kindern erwartet, dass wir bei diesen Arbeiten mithelfen. Ein besonderer Augenblick war die Ernte der ersten Kartoffeln (nachdem wir uns vorher mit den Kartoffelkäfern einen kleinen Krieg geleistet hatten). Wer irgend konnte, hatte auch noch etwas Pachtland, das ebenfalls beackert werden musste. 

Mit dem zunehmenden Wohlstand wurden diese Flächen überflüssig. Das Pachtland wurde aufgegeben, die Feldfluren mit ihren vielen kleinen Pachtflächen wurden jetzt nur von den Bauern bearbeitet. 

Gemüse und anderes konnte man billiger und besser kaufen, zunächst vielleicht noch im Dorfladen, dann aber im Supermarkt der nächsten Kleinstadt, die man ja mit dem Auto so leicht erreichen konnte. Aus den großen Gärten wurden Rasenwüsten - das samstägliche Rasenmähen ersetzte nun die mühevolle Bestellung des Gartenlandes.

Inzwischen haben sich Verhaltensweisen auf dem Lande eingeschliffen, die nur selten durchbrochen werden. Der pflegeleichte Hof möglichst gepflastert, der tote Rasen, mindestens zwei Autos pro Haushalt - all das erscheint so selbstverständlich, dass eine andere ländlich-dörfliche Lebensform kaum noch vorstellbar zu sein scheint. Ja, ich weiß, es gibt auch Ausnahmen, aber es sind eben - Ausnahmen. 

Der Flächenverbrauch im Umkreis der Großstädte nimmt weiter zu, ein Neubaugebiet neben dem anderen, genau dort, wo vor 200 Jahren garantiert niemand gebaut hätte - auf dem besten Ackerboden. Doch dieser ist im Zuge einer grünen Wende zu einem No-Go uminterpretiert worden. Gewiss, wir brauchen wieder mehr naturnahe Flächen, aber eben auch mehr Ackerland, wenn wir gesund und regional leben wollen. Was wir nicht brauchen, ist eine weitere Versiegelung des Landes, aber das geht nur mit einer radikalen Wende, wozu auch der stärkere Verzicht auf das Autofahren gehört.  

Mehr „Gehen“ kann man auch sehen als ein Anerkennen der Tatsache, dass eben nicht alles unendlich da ist, sondern Ressourcen knapp sind. Wir sollten diese Tatsachen anerkennen und nicht versuchen, sie zu verdrängen. Nur dann haben wir eine Chance.

Freitag, 28. Mai 2021

Von der Handarbeit

 Zum Dorf gehören die Landwirtschaft, die Siedlung, das Feld – und die Handarbeit! Letzteres wird oft vergessen, ist aber essentiell für die Geschichte des Dorfes und – auch wenn das hier sehr hoch gegriffen erscheinen mag, für die gesamte Menschheitsgeschichte vor der Industrialisierung – die Handarbeit. „Vom Elend der Handarbeit“ heißt ein Sammelband aus den 1980er Jahren und er handelt von der Geschichte der Unterschichten. Diese waren es, denen die Handarbeit vorbehalten war – die Oberschichten ließen sich bedienen – aber die anderen, und das war die Mehrheit, musste sich der Mühsal der Handarbeit unterziehen.

Handarbeit war – fast – alles: Die Arbeit im Haushalt, der Hausbau, die Arbeit auf dem Acker, alles musste mit den Händen der Menschen gemacht werden, zuweilen unter Zuhilfenahme tierischer Arbeitskraft. Aber selbst wenn diese zur Verfügung stand, entband das die Menschen nicht von der Arbeit ihrer Hände. Der pflügende Knecht (manchmal auch der Bauer) musste den Pflug und das Pferd führen, von allein lief es nicht vor dem Pflug. Mit dem Pferd konnte der Acker bearbeitet werden, aber der Mensch musste nebenher gehen und führen. Die Ernte war dagegen sehr stark Handarbeit – noch bis vor wenigen Jahrzehnten.
Filme des frühen 20. Jahrhunderts zeigen diese zeitaufwendige Arbeit sehr deutlich. Handarbeit prägte Dorfleben bis vor wenigen Jahrzehnten noch immer und überall. Ob es das Brotbacken war, die Gartenarbeit – damals waren Gärten noch Nutzgärten und keine Steingärten – , die Arbeit auf dem Feld, aber auch in den Handwerksbetrieben. Überall wurde mit den Händen gearbeitet.

 
Wer nun denkt, was schreibt der da? Das ist doch normal, der möge sich einmal ansehen, wo und wie wir heute noch mit unseren Händen arbeiten. Die Handarbeit, d.h. die Arbeit mit den Händen, das Zusammenspiel von Auge und Hand, das Erlernen feiner Anpassungen eigener Tätigkeit an den Gegenstand, das Üben, all das gehörte ganz selbstverständlich zum Alltag. Die Forschung hat sich dieses Thema, wenn ich das richtig sehe, nur relativ begrenzt angenommen und dann als Teil der Unterschichtenforschung. (Mommsen, Hans; Schulze, Winfried (Hg.): Vom Elend der Handarbeit : Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981.)

 
Aber war das alles nur Mühsal und Elend? Ich bin da nicht so sicher. Oft muss ich an meine Großmutter denken, die im Sommer morgens früh aufstand, Erbsen pflückte und dann stundenlang die Erbsen auspuhlte. Das war ein Bestandteil ihres Lebens, der ihm Sinn gab. Vor kurzem habe ich ein Video über die Frühgeschichte von Hokkaido gesehen und dort wurde eine ältere Dame gezeigt, die seit 40 Jahren auf den Knien mit einer einfachen Methode mit einem Rückengurt webt. Eine mühselige Arbeit, die aber von dieser Frau gern gemacht wird, weil sie Teil ihres Lebens ist. (https://www.youtube.com/watch?v=AS6_eBsA4oU&t=2565s)
Oder ich muss an die Glasmacher denken, die einerseits eine harte und schwere Arbeit zu verrichten hatten, aber gleichzeitig stolz darauf waren, diese schwere und komplizierte Arbeit zu beherrschen, die sonst niemand ausüben konnte. Für sie war die Einführung der automatisierten Glasherstellung Anfang des 20. Jahrhunderts ein schwerer Schock, nahm diese doch ihrer Handarbeit ihren spezifischen, nicht austauschbaren Charakter. „Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will!“ Das war ein deutliches Zeichen dieses Arbeiterselbstbewußtseins, das sich mit dem Begriff der Unterschicht fassen lässt. Oder die Dampflokbesatzungen, die einerseits schwere Arbeit zu verrichten hatten, aber ohne deren Fachwissen eine Dampflok keine Höchstleistungen erbringen konnte.
Ohne das ganz spezifische Fachkönnen ging kaum etwas. Wir haben in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Wertewandel erlebt, Handarbeit gilt mittlerweile als niedrige Arbeit, Arbeit am Schreibtisch dagegen als hochwertig. Lieber ein arbeitsloser Architekt sein, als ein gut bezahlter Handwerker, so könnte man unsere heutigen Wertungen zusammenfassen. Was heute nur noch zählt, ist höhere Bildung. Folgt man einigen der üblichen Wertungen, dann zählt nur noch der gymnasiale Abschluss. Damit hat unsere Gesellschaft Wertungen der früheren Oberschichten übernommen und sich vom Selbstverständnis der „einfachen Leute“, die ihr Selbstbewußtsein und ihre Identität aus der Handarbeit, aus ihrer Schwere, aber auch ihrer Beherrschung ableitete, verabschiedet.
Was hat das für das Dorf zu bedeuten? Dorf war sicher nicht nur Gemeinschaft, auch wenn das heute viele glauben. Dörfer waren Klassengesellschaften mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Oben und Unten, mit vornehmen Gutsherren, reichen Bauern und armen Tagelöhnern und allem Möglichem dazwischen. Dorf war zudem ein Ort der Arbeit, im Haus, im Handwerksbetrieb und auf dem Feld. Der Jahresrhythmus des Dorfes war zudem vom Wechsel der harten Arbeit und dem ausgelassenen Feiern geprägt, „Saure Wochen, frohe Feste“ prägten das Leben, wobei die „frohen Feste“ auf wenige Ereignisse im Jahr begrenzt waren. (Weber-Kellermann, Ingeborg: Saure Wochen, frohe Feste: Fest und Alltag in der Sprache der Bräuche, München 1985.) Inzwischen werden Erntefeste wieder gefeiert, aber die sauren Wochen davor, die harte Arbeit auf dem Feld haben wir mal eben gestrichen. Damit ist eigentlich ein Menschheitstraum erfüllt, nicht für alle Menschen, aber für viele. Körperliche Arbeit gehört für immer mehr Menschen der Vergangenheit an. Eigentlich ein Grund zum Feiern, aber, und hier sind die Neurowissenschaft gefragt, kommt die Frage auf, welche Folgen es hat, wenn wir immer weniger mit unseren Händen machen, aber auch der Mühsal der Handarbeit ausweichen. Das alles ist nicht mein Fachgebiet und kann nicht Gegenstand dieses Blogs ein. Hier geht es vielmehr darum, auf das Verschwinden der Handarbeit aus dem Dorf zu verweisen, eine höchst ambivalente Geschichte. Die letzten 60 Jahren haben diesen Wandel ermöglicht, für die kleinen Leute auf den Dörfern bedeutete dies auch das Ende der Abhängigkeit von Bauern. In mehreren Dörfern wurde mir vor 30 Jahren von dieser Emanzipation berichtet. Nun waren es die Bauern, die allein ihre Höfe bewirtschaften mussten, weil es keine Landarbeiter mehr gab. Aber das ist fast schon wieder eine andere Geschichte.

Montag, 24. Mai 2021

Über die Dörfer

 Es gibt sie noch, die abgeschiedenen, stillen Dörfer: wenig Häuser, kaum Neubauten, alles eher alt, manches verwahrlost, anderes verlassen, wieder anderes liebevoll hergerichtet. Zwischendurch eine Rasen- oder schlimmer noch, eine Steinwüste. Aber letzteres hält sich noch(?) in Grenzen, allerdings ist unübersehbar, dass Dorfbewohner es gern ordentlich haben - zumindest in der Masse. Aber die fehlenden Neubaugebiete verhindern ein zu eintöniges Bild. Es wechseln sich also in diesen abgelegenen, kleinen Dörfer größere Hofanlagen, kleinere Höfe, Neubauten aus den 1950er Jahren bis heute ab. Die Grundstücke sind meist nicht gleichmäßig, sondern oft regelrecht ineinander verschachtelt. Die Gärten sind groß, allerdings ebenfalls auch die Parkplätze vor den Häusern. 

Man sieht noch recht viel ältere Bäume und Büsche, jedoch sind die Rasenflächen recht ausgedehnt und kurz geschnitten. Der Blick auf die meist kurzgeschorenen Rasenflächen läßt den nostalgischen Blick schärfen. Echte Gemüsegärten gibt es so gut wie gar nicht, mal ein schon aufgeworfenes Kartoffelfeld, aber das war es, keine Bohnen oder Erbsen, Erdbeeren oder Stachelbeeren. Vielleicht sind diese Gärten schön hinter den Häusern versteckt, damit niemand etwas sieht. Aber das erscheint mir unwahrscheinlich. Vielmehr zeugen die durchaus liebevoll angelegten Gärten mit Büschen, Ziersträuchen, neckischen Figuren und Steinhaufen von dem Bemühen, es „schön“ zu haben, wobei das, was „schön“ ist, sehr im Auge des Betrachters liegt, wie es so schön heißt. Für einen Nutzgarten ist da wenig Platz - und vermutlich auch Zeit, denn die scheint knapp zu sein. 

Vielleicht ist in den Dörfern die Freude darüber, sich von der Mühsal der Landarbeit emanzipiert zu haben, immer noch zu ausgeprägt, als dass man dem eigenen Nutzgarten nachtrauern würde. Es stehen auch meist genügend Autos vor der Tür, um schnell zum nächsten Supermarkt fahren zu können, der sich im nächsten oder übernächsten Ort befindet. Es fehlt aber noch mehr. In diesen kleinen, stillen Dörfern gibt es schon längst keine Läden mehr, keinen Bäcker, keinen Dorfladen, keine Schule, keine Post. Sie sind alle mit den Nutzgärten ausgezogen und offenbar vermisst sie niemand ernsthaft. Das Leben funktioniert auch ohne sie ganz gut. 

Es ist nämlich noch etwas aus diesen kleinen, stillen Dörfern verschwunden: die Armut. Den Menschen hier scheint es durchgehend sehr gut zu gehen, davon zeugen die gepflegten Häuser und Gärten, der Zierrat an und um die Häuser, die mindestens zwei, meist neueren Pkw, daneben steht dann zuweilen auch noch ein Wohnmobil. Man ist wohlhabend. Die Armut, einst ein unumgänglicher Bewohner von Dörfern ist verschwunden oder zumindest nicht mehr sichtbar. 

Sichtbar ist ein schönes Stichwort, denn sichtbar ist auch anderes nicht, etwa die Menschen. Man kann durch mehrere Dörfer gehen, bei schönstem Wetter, es ist kaum jemand zu sehen. Nicht auf den Dorfstraßen, nicht vor den Häusern, nicht in Gärten. Man geht zuweilen durch eine verlassene, stille Idylle. Und stünden da nicht überall Autos vor den Häusern, sollte man meinen, dass die Menschen ihre Dörfer zusammen mit der Post, dem Nutzgarten, dem Dorfladen, der Dorfschule verlassen haben. Wo sind etwa die alten Frauen geblieben, die wiegend mit dem Fahrrad durchs Dorf fuhren? Wo die Kinder? 

Verschwunden ist auch die Landwirtschaft. Und das ist das Seltsamste. Sicher, wenn man sich dem Dorf zu Fuß, nicht per Auto oder per Rad, nähert, dann geht man durch Felder. Große Felder, zuweilen, aber nur sehr selten, eingehegt durch Hecken, manchmal immerhin noch umgeben von einem schmalen Ackerrain, aber sonst riesige Felder. Von Menschen verlassene Felder, die nur zu bestimmten Zeiten von riesigen Maschinen bevölkert werden. Kommt man dann in die Dörfer, dann gibt es dort höchstens noch eine Hofanlage zu sehen, auf der Landwirtschaft betrieben wird. Wenn man Glück hat. Allerdings haben Pferde wieder Einzug in manche Dörfer gehalten, Pferde zum Spaß und als Hobby, nicht als notwendige Nutztiere. Aber immerhin, es riecht dann ein wenig nach Tier und Mist. 

Vielleicht habe ich nur die falschen Bilder im Kopf, Bilder von Dörfern, die über Jahrhunderte ganz aussahen, in denen das Leben nicht so leicht und einfach war wie heute, die aber nicht verlassen waren von Ente, Pferde, Kuh, Schwein, Erbsen, Bohnen, Dorfschule oder Armut. 





Donnerstag, 17. September 2020

Weiterbildung: Dörfer nach 1945

 In diesem Herbst finden wieder Weiterbildungen statt. Für die erste, die sich in Braunschweig dem Thema "Dörfer nach 1945" widmet, habe ich angefangen, eine Einführung zu schreiben, die immer noch etwas unvollständig ist, aber dennoch hier schon heruntergeladen werden kann: Die große Transformation: Dörfer nach 1945.

Dienstag, 1. September 2020

Es wird langweilig - warum ich Literatur über Dörfer und den ländlichen Raum immer weniger gern lese

Es gibt ein neues Buch, geschrieben von einem sicher klugen Mann, einem Geografen, das wieder einmal vom Landleben handelt. Betrachtet man die Literatur zum Thema, so fallen zwei Arten auf: Da sind einerseits die rein wissenschaftlichen Arbeiten wie die von Trossbach und Zimmermann oder die in Halle erscheinende Reihe, herausgegeben von Nell und Weiland. Erstere geben einen eher emotionslosen, wissenschaftlichen Überblick, letztere decken ein breites Spektrum an Themen ab, wobei - bedingt durch die Herkunft der Herausgeber - eher literaturwissenschaftliche Aspekte und dann vorrangig aus einer mittel- und osteuropäischen Perspektive betrachtet werden, was dem Thema ohne Zweifel gut bekommt.

Und dann sind da, und darauf bezog sich meine Überschrift die Bücher, die einen Überblick geben wollen, aber sich als eine Verteidigung des Landlebens oder gar des Dorfes sehen. Gerhard Henkel hat mehrere solcher Bücher geschrieben. Und ich möchte nicht mißverstanden werden: Das sind durchaus kluge Bücher mit vielen wichtigen Informationen über den ländlichen Raum. Das gilt auch für das neue Buch von Bätzing. Aber, nun kommt mein großes Aber: Mir fehlt in diesen Büchern der Widerspruch, das diskursive, sie sind linear geschrieben und folgen einem einzigen Narrativ, nämlich dem, dass das Landleben unverzichtbar für eine Gesellschaft ist (was ich auch glaube, aber was vielleicht doch zu diskutieren wäre) und es vor allem dort sehr lebenswert sei. Die alte, von Bergmann schon beschriebene Agrarromantik scheint hier immer wieder durch. 

Und hier setzen meine Zweifel an. Warum etwa, so ließe sich für die Vergangenheit fragen, war es denn so schön auf dem Dorf, wenn doch die Menschen, sowie sich die Gelegenheit ergab, die Flucht ergriffen? Nun gut, nicht alle, aber doch sehr, sehr viele. Das ist doch unlogisch, es sei, man unterstellt den Landbewohnern unlogisches Verhalten. Aber wäre das nicht wieder ein arroganter städtischer Blick auf das Dorf und seine Menschen? Also, weshalb verlassen im 19. und 20. Jahrhundert so viele Menschen ihre Dörfer, wenn es dort doch ein so schönes Leben war? Vielleicht, weil diese Bilder die andere Seite des Dorflebens ausblenden? Die Härte und Abgeschiedenheit des Alltags? Und weil sie die Machtfrage ausblenden? Im 19. Jahrhundert, in der Industrialisierung setzen die Klagen über die Landflucht ein, vorgetragen von den großen Betrieben, den Großbauern und den Gutsbesitzern. Die brauchten nämlich die einfachen Leute, damit sie die Arbeit machen konnten. Eine Arbeit, die schlecht bezahlt war, keine Aufstiegsmöglichkeiten bot und kaum Chancen, sich gegen Übergriffe der Arbeitgeber zur Wehr zu setzen. Diese Bedingungen betrafen erschreckend viele Dorfbewohner, nämlich die zahlreichen Kleinststellenbesitzer und Mieter auf den Dörfern, die in den gängigen geschönten Bildern vom Dorf gern ausgeblendet werden. Für viele von diesen war es attraktiver, in die Stadt oder in die Industrie zu gehen, obwohl es dort erst einmal nicht so viel besser war, aber es gab eben die Chance des Aufstiegs. 

Wer über die Mühen des Alltags der kleinen Leute auf dem Lande mehr erfahren will, sollte sich Franz Rehbeins Berichte aus dem Leben eines Knechts und Tagelöhners ansehen (viele der von ihm Ende des 19. Jahrhunderts beschriebenen Verhältnisse decken sich erschreckend gut mit den Berichten meiner Mutter, die Ende der 1940er Jahre Magd auf einem Bauernhof war ...). Das war auch kein Einbahnstraße, Rehberg entscheidet sich, als er die Wahl hat, weiter für das Landleben und gegen die Stadt. Aber für die meisten fiel die Wahl anders aus. 

Ehe ich mich in diesem Thema verliere, ein Szenewechsel. Heute wird ja wieder über die Benachteiligung des Landes geklagt, die Geschäfte verschwinden, die Stadt kontrolliert das Land, so ließe sich sehr knapp der Befund zusammenfassen. Gleichzeitig gibt es eine massive Ästethisierung des Landlebens. In den Medien tauchen die schönen alten Bauernhöfe auf, aber die teils schrecklichen und teils zusätzlich monotonen Neubaugebiete, die sich in die Landschaft fressen, werden dabei übersehen. Das fängt bei mir hier vor dem Haus an: Noch nicht alle, aber immer mehr, schütten ihr Vorgärten mit Steinen zu, bauen große gepflasterte Stellplätze für ihre Autos. Es ist schon absurd: Während in der Stadt die autofreie Innenstadt (wo seltsamerweise kaum jemand wohnt, aber das ist eine andere Geschichte) gefordert wird, kümmert sich hier auf dem Lande niemand um weniger Autoverkehr, ganz im Gegenteil. Während die Krise des Landlebens ausgerufen wird, die in der Benachteiligung zulasten der Städte bestehe, sieht niemand die wirkliche Krise des Landlebens: Die Zerstörung des Landes durch die Dörfer und ihre Bewohner. Es ist ja nicht nur die Art und Weise, was die „neuen“ Dorfbewohner mit ihren Grundstücken veranstalten, sondern diese neuen Grundstücke selbst sind das Problem. Und das zweite Problem sind die Verantwortlichen in den Gemeinden, die eben kein Problem darin sehen, dass ihre Neubaugebiete das zerstören, was zum alten Dorf untrennbar dazu gehörte: Eine Feldmark, die elementar für die Ernährung und das Leben der Menschen war. 

Was das bedeutet, mögen ein paar Zahlen verdeutlichen: 1800 lebten auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik weniger als 20 Millionen Menschen, weniger als ein Viertel der heutigen Bevölkerung. Davon lebte die weitaus größte Zahl auf dem Land oder in Kleinstädten (deren Bürger ebenfalls immer etwas Landwirtschaft betrieben), Fleisch wurde nur in sehr geringen Mengen verzehrt, Vieh wurde vor allem gehalten, um Dünger für den Acker zu gewinnen. Ca. 80-90 % der Menschen verbrachten mehr oder weniger große Teile ihrer Zeit auf dem Feld oder mit Arbeiten, die der Gewinnung oder Zubereitung von Nahrung gewidmet waren. Und dennoch waren die Ernährungsverhältnisse aus heutiger Sicht katastrophal, drohte fast immer ein Hungerjahr, war ein voller Magen etwas Besonderes. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn der erwähnte Franz Rehbein seine Arbeitgeber vor allem danach bewertete, ob sie reichlich und gut zu essen gaben. Das sind ferne Zeiten, die hoffentlich nicht wiederkehren, aber wer weiß das schon?

Also bitte etwas mehr Ehrlichkeit. Und mehr Differenzierung, denn das Landleben ist nicht nur von dem Aussterben der Dörfer bedroht, wie in manchen Regionen Deutschlands, sondern auch davon, dass hier zu viele mit einem zu hohen Landverbrauch leben. 


Die Bücher:

Bätzing, Werner, Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform. München 2020.

Henkel, Gerhard, Der ländliche Raum: Gegenwart und Wandlungsprozesse seit dem 19. Jahrhundert in Deutschland. Berlin 2004 (und neuer).

Ders.: Rettet das Doref! Was jetzt zu tun ist. München 2. Aufl. 2018

Nell, Werner; Weiland, Marc, Hrg.: Imaginäre Dörfer: Zur Wiederkehr des Dörflichen in Literatur, Film und Lebenswelt. Bielefeld 2014.

Trossbach, Werner; Zimmermann, Clemens, Die Geschichte des Dorfes. Von den Anfängen im Frankenreich zur bundesdeutschen Gegenwart. Stuttgart 2006.


Franz Rehbein, Aus dem Leben eines Landarbeiters und Tagelöhners gibt es u.a. hier: [http://www.zeno.org/Kulturgeschichte/M/Rehbein,+Franz/Das+Leben+eines+Landarbeiters]


Samstag, 22. August 2020

Vom Wert des Ackerlandes

 Die aktuellen Debatten zwischen Nabu und Landwirtschaft sind hochinteressant, verweisen sie doch auf ein zentrales Problem unserer aktuellen Debatten, sie gehen an einem zentralen Aspekt vorbei: dem exzessiven Verbrauch von Ackerflächen für Siedlungen und Verkehr! Derzeit sind es etwa 56 ha täglich (!), die in diesem Land für Siedlung und Verkehr verloren gehen; zwischen 1992 und 2017 waren das insgesamt 1,29 Millionen ha!

Das Umweltbundesamt schreibt dazu: 

„Insgesamt sind die Inanspruchnahme immer neuer Flächen und die Zerstörung von Böden auf die Dauer nicht vertretbar und sollten beendet werden. Angesichts global begrenzter Landwirtschaftsflächen und fruchtbarer Böden sowie der wachsenden Weltbevölkerung ist der anhaltende Flächenverbrauch mit all seinen negativen Folgen unverantwortlich. Dies gilt auch und besonders mit Rücksicht auf künftige Generationen.“ (https://www.umweltbundesamt.de/daten/flaeche-boden-land-oekosysteme/flaeche/siedlungs-verkehrsflaeche#anhaltender-flachenverbrauch-fur-siedlungs-und-verkehrszwecke-)

Diese Zerstörung von Natur in großem Stil findet auch in Schaumburg statt. In Nienstädt soll eine Umgehungsstraße gebaut werden, in Bad Nenndorf ein großes Werk für VW, fast jede Gemeinde ist „stolz“ auf ihre Neubaugebiete, immer mehr Eigenheimbesitzer pflastern ihre Grundstücke zu oder legen „Gärten des Grauens“ an. Nahezu grotesk mutet es dann an, wenn - wie gerade in Bad Nenndorf - davon die Rede ist, „Ausgleichsflächen“ zu schaffen: Woher sollen die denn kommen? Allerdings gibt es nicht nur das Negieren dieses enormen Flächenverbrauchs, sondern Ackerland wird als weniger „wertvoll“ angesehen als naturnahe Flächen. Wenn wir also genug „naturnahe“ Flächen ausweisen, so die Annahme, sei das Problem gelöst. Diese Flächen sind dann logischerweise Ackerland ...

Was bei der Zerstörung von Ackerland gern vergessen wird: Wenn wir ökologisch angebaute Nahrungsmittel haben wollen, dann brauchen wir das gute Ackerland! Aber genau diese Flächen werden zugunsten von Neubaugebieten, Straßen und Gewerbegebieten zerstört und zwar unwiederbringlich. Während die vermeintlich „wertvollen“ Flächen noch einen gewissen Schutz erfahren, gilt das für Ackerland nicht. 

Für die Menschen vor 200 Jahren, die immer mit katastrophalen Hungersnöten rechnen mussten, war es klar, dass Ackerland schützenswert war, weil es die Ernährung der Menschen (zusammen mit der Nutzung von Gemeinheiten und Weiden) sicherte. Niemand wäre auf die Idee gekommen, auf den besten Böden der jeweiligen Gemarkung Häuser zu bauen. Heute finden wir ein solches Verhalten normal. Das kann man gut in einigen Gemeinden Schaumburgs sehen. In Altenhagen (Hagenburg) beispielsweise sind große Teile des ursprünglichen Ackerlandes mittlerweile ein riesiges Gebiet mit Einfamilienhäusern geworden.  

Das Ziel muss dagegen sein, den Flächenverbrauch massiv weiter zu senken, anstatt ihn zu erhöhen und dabei nicht nur auf naturnahe Flächen zu sehen. Das setzt neue Ideen und vor allem neue Verhaltensweisen voraus, an denen es aber offenkundig auch in Schaumburg mangelt. So würde eine Wiederinbetriebnahme der Eisenbahn zwischen Rinteln und Stadthagen keine Flächen verbrauchen, eine Umgehungsstraße aber sehr wohl. Erstaunlich ist an den Nienstädter Verhältnissen, dass im Unterschied zum Auetal offenbar der Widerstand nicht breiter ausfällt gegen eine großflächige Zerstörung von Landschaft und Ackerland.

Ohne ein strukturelles Umdenken in Sachen Flächenverbrauch und eine Neubewertung von Ackerland werden die jetzt geführten Auseinandersetzungen wenig an den entscheidenden Problemen ändern.