Dienstag, 17. September 2013

Zur Einführung

Die Beiträge dieser Seite basieren auf den Manuskripten einer Vorlesung des Sommersemesters. Ich habe sie weitgehend so belassen; der Verweisapparat ist vorerst knapp gehalten.

In den ersten Sitzungen dieser Vorlesung werde ich über Bilder von Dörfern sprechen und dabei bewusst keine Bilder zeigen. Es geht nämlich nicht um die Bilder, die man sehen kann, sondern um die, welche wir in unseren Köpfen haben, unsere inneren Bilder. Um die Bedeutung dieser Bilder zu verdeutlichen, möchte ich mit ein paar allgemeinen Überlegungen zu unserer Wahrnehmung beginnen. Kennen Sie "Savants"? Savants sind Menschen mit einer sogenannten Inselbegabung. Einige von ihnen können sich etwa an jedes kleine Detail erinnern, das sie jemals gesehen haben. Wir normale Menschen können das nicht, aber was nehmen wir überhaupt von unserer Umwelt wahr? Die Antwort darauf ist nicht einfach zu geben, doch im Kern filtern wir die Fülle an Eindrücken, die unser Gehirn permanent aufnimmt. Dabei bilden bisherige Erfahrungen und daraus abgeleitete Erwartungen eine sehr wichtige Basis. Unsere Erwartungshaltung bestimmt also in einem nicht geringen Maße darüber, was wir wahrnehmen - und was wir eben nicht wahrnehmen.

Ich beginne weder mit anschaulichen Beispielen für das, was ich zum Thema Dorf und Region sagen will, noch chronologisch, sondern mit einer kleinen Geschichte, dann mit einigen Beispielen, die meine ganz konkreten Erfahrungen mit dem Thema Dorf und Region wiedergeben. Anfang der 1990er Jahre führten wir – einige Kollegen der Universität Hannover – ein Seminar für Dorfplaner und Heimatforscher durch. Während des Eröffnungswochenendes, das im Emsland stattfand, machten wir einen Ausflug zu einigen an der Ems gelegenen Dörfern. Wir, das waren eine aus der Region stammende Kollegin und ich, wir beide also führten voller Stolz einige an der Ems gelegene Dörfer vor. Wunderbar konnte man bei ihnen das Zusammenspiel von Fluss, Dorf und auf der Geest gelegenem Ackerland, dem Esch, beobachten, die sogenannte Auenorientierung. Besser konnte man die Struktur eines niedersächsischen Dorfes kaum zeigen. Aber einige unserer Teilnehmer blickten irritiert auf das, was sie sahen. Später fragten sie uns, ob das denn überhaupt Dörfer seien. Bei der anschließenden Diskussion zeigte sich, dass sie aus dem südniedersächsischen Berg- und Hügelland stammten, und für sie ein Dorf eine Siedlung darstellt, in der die Häuser dicht gedrängt aneinander stehen und der Acker weiter ab vom Dorf zu finden ist.

Die weit auseinander gezogenen emsländischen Dörfer wirkten auf sie fremd und ungewohnt. Was hier wie eine nebensächliche Episode erscheint, ist in Wirklichkeit ein entscheidender Hinweis. Zwar glaubt jeder zu wissen, was ein Dorf ist, aber diese Vorstellung ist viel individueller als den meisten bewusst sein dürfte. Für die Dorfforschung ist dies eine relevante Beobachtung, denn die Untersuchung eines Dorfes sagt nicht viel über andere Dörfer aus, die Verallgemeinerung einzelner Untersuchungsergebnisse verwischt eher als das sie erklärt.

Wie sich diesem Problem also nähern? Ich möchte es im Folgenden in einer sehr persönlichen Weise tun. In den letzten 30 Jahren habe ich in einer Reihe von Dörfern gearbeitet, wobei die Anlässe und die Art der Art sehr verschieden waren. In Dreien davon habe ich lange gelebt – mehr als die Hälfte meines bisherigen Lebens – in anderen habe ich mit Heimatforschern oder einfach Dorfbewohnern über deren Geschichte geforscht, in wieder anderen war ich mit Studierenden, um Interviews zu führen oder anhand von Akten die Geschichte der Orte zu entdecken. Es sind also keine systematisch vergleichenden Studien, sondern sie hängen immer engen mit eigenen Lebensphasen und sehr individuellen Kontexten zusammen. Aber das macht diese Annäherungen vielleicht interessant.

> Ein Hinweis zu diesen Blogbeiträgen: In der Vorlesung habe ich in die folgenden Abschnitte auch systematische eingestreut, die hier ggf. noch anschließend erscheinen werden. Zunächst beschränke ich mich aber auf die vorzustellenden Dörfer.