Freitag, 28. Mai 2021

Von der Handarbeit

 Zum Dorf gehören die Landwirtschaft, die Siedlung, das Feld – und die Handarbeit! Letzteres wird oft vergessen, ist aber essentiell für die Geschichte des Dorfes und – auch wenn das hier sehr hoch gegriffen erscheinen mag, für die gesamte Menschheitsgeschichte vor der Industrialisierung – die Handarbeit. „Vom Elend der Handarbeit“ heißt ein Sammelband aus den 1980er Jahren und er handelt von der Geschichte der Unterschichten. Diese waren es, denen die Handarbeit vorbehalten war – die Oberschichten ließen sich bedienen – aber die anderen, und das war die Mehrheit, musste sich der Mühsal der Handarbeit unterziehen.

Handarbeit war – fast – alles: Die Arbeit im Haushalt, der Hausbau, die Arbeit auf dem Acker, alles musste mit den Händen der Menschen gemacht werden, zuweilen unter Zuhilfenahme tierischer Arbeitskraft. Aber selbst wenn diese zur Verfügung stand, entband das die Menschen nicht von der Arbeit ihrer Hände. Der pflügende Knecht (manchmal auch der Bauer) musste den Pflug und das Pferd führen, von allein lief es nicht vor dem Pflug. Mit dem Pferd konnte der Acker bearbeitet werden, aber der Mensch musste nebenher gehen und führen. Die Ernte war dagegen sehr stark Handarbeit – noch bis vor wenigen Jahrzehnten.
Filme des frühen 20. Jahrhunderts zeigen diese zeitaufwendige Arbeit sehr deutlich. Handarbeit prägte Dorfleben bis vor wenigen Jahrzehnten noch immer und überall. Ob es das Brotbacken war, die Gartenarbeit – damals waren Gärten noch Nutzgärten und keine Steingärten – , die Arbeit auf dem Feld, aber auch in den Handwerksbetrieben. Überall wurde mit den Händen gearbeitet.

 
Wer nun denkt, was schreibt der da? Das ist doch normal, der möge sich einmal ansehen, wo und wie wir heute noch mit unseren Händen arbeiten. Die Handarbeit, d.h. die Arbeit mit den Händen, das Zusammenspiel von Auge und Hand, das Erlernen feiner Anpassungen eigener Tätigkeit an den Gegenstand, das Üben, all das gehörte ganz selbstverständlich zum Alltag. Die Forschung hat sich dieses Thema, wenn ich das richtig sehe, nur relativ begrenzt angenommen und dann als Teil der Unterschichtenforschung. (Mommsen, Hans; Schulze, Winfried (Hg.): Vom Elend der Handarbeit : Probleme historischer Unterschichtenforschung, Stuttgart 1981.)

 
Aber war das alles nur Mühsal und Elend? Ich bin da nicht so sicher. Oft muss ich an meine Großmutter denken, die im Sommer morgens früh aufstand, Erbsen pflückte und dann stundenlang die Erbsen auspuhlte. Das war ein Bestandteil ihres Lebens, der ihm Sinn gab. Vor kurzem habe ich ein Video über die Frühgeschichte von Hokkaido gesehen und dort wurde eine ältere Dame gezeigt, die seit 40 Jahren auf den Knien mit einer einfachen Methode mit einem Rückengurt webt. Eine mühselige Arbeit, die aber von dieser Frau gern gemacht wird, weil sie Teil ihres Lebens ist. (https://www.youtube.com/watch?v=AS6_eBsA4oU&t=2565s)
Oder ich muss an die Glasmacher denken, die einerseits eine harte und schwere Arbeit zu verrichten hatten, aber gleichzeitig stolz darauf waren, diese schwere und komplizierte Arbeit zu beherrschen, die sonst niemand ausüben konnte. Für sie war die Einführung der automatisierten Glasherstellung Anfang des 20. Jahrhunderts ein schwerer Schock, nahm diese doch ihrer Handarbeit ihren spezifischen, nicht austauschbaren Charakter. „Alle Räder stehen still, wenn unser starker Arm es will!“ Das war ein deutliches Zeichen dieses Arbeiterselbstbewußtseins, das sich mit dem Begriff der Unterschicht fassen lässt. Oder die Dampflokbesatzungen, die einerseits schwere Arbeit zu verrichten hatten, aber ohne deren Fachwissen eine Dampflok keine Höchstleistungen erbringen konnte.
Ohne das ganz spezifische Fachkönnen ging kaum etwas. Wir haben in den letzten Jahrzehnten einen dramatischen Wertewandel erlebt, Handarbeit gilt mittlerweile als niedrige Arbeit, Arbeit am Schreibtisch dagegen als hochwertig. Lieber ein arbeitsloser Architekt sein, als ein gut bezahlter Handwerker, so könnte man unsere heutigen Wertungen zusammenfassen. Was heute nur noch zählt, ist höhere Bildung. Folgt man einigen der üblichen Wertungen, dann zählt nur noch der gymnasiale Abschluss. Damit hat unsere Gesellschaft Wertungen der früheren Oberschichten übernommen und sich vom Selbstverständnis der „einfachen Leute“, die ihr Selbstbewußtsein und ihre Identität aus der Handarbeit, aus ihrer Schwere, aber auch ihrer Beherrschung ableitete, verabschiedet.
Was hat das für das Dorf zu bedeuten? Dorf war sicher nicht nur Gemeinschaft, auch wenn das heute viele glauben. Dörfer waren Klassengesellschaften mit einem mehr oder weniger ausgeprägten Oben und Unten, mit vornehmen Gutsherren, reichen Bauern und armen Tagelöhnern und allem Möglichem dazwischen. Dorf war zudem ein Ort der Arbeit, im Haus, im Handwerksbetrieb und auf dem Feld. Der Jahresrhythmus des Dorfes war zudem vom Wechsel der harten Arbeit und dem ausgelassenen Feiern geprägt, „Saure Wochen, frohe Feste“ prägten das Leben, wobei die „frohen Feste“ auf wenige Ereignisse im Jahr begrenzt waren. (Weber-Kellermann, Ingeborg: Saure Wochen, frohe Feste: Fest und Alltag in der Sprache der Bräuche, München 1985.) Inzwischen werden Erntefeste wieder gefeiert, aber die sauren Wochen davor, die harte Arbeit auf dem Feld haben wir mal eben gestrichen. Damit ist eigentlich ein Menschheitstraum erfüllt, nicht für alle Menschen, aber für viele. Körperliche Arbeit gehört für immer mehr Menschen der Vergangenheit an. Eigentlich ein Grund zum Feiern, aber, und hier sind die Neurowissenschaft gefragt, kommt die Frage auf, welche Folgen es hat, wenn wir immer weniger mit unseren Händen machen, aber auch der Mühsal der Handarbeit ausweichen. Das alles ist nicht mein Fachgebiet und kann nicht Gegenstand dieses Blogs ein. Hier geht es vielmehr darum, auf das Verschwinden der Handarbeit aus dem Dorf zu verweisen, eine höchst ambivalente Geschichte. Die letzten 60 Jahren haben diesen Wandel ermöglicht, für die kleinen Leute auf den Dörfern bedeutete dies auch das Ende der Abhängigkeit von Bauern. In mehreren Dörfern wurde mir vor 30 Jahren von dieser Emanzipation berichtet. Nun waren es die Bauern, die allein ihre Höfe bewirtschaften mussten, weil es keine Landarbeiter mehr gab. Aber das ist fast schon wieder eine andere Geschichte.

Montag, 24. Mai 2021

Über die Dörfer

 Es gibt sie noch, die abgeschiedenen, stillen Dörfer: wenig Häuser, kaum Neubauten, alles eher alt, manches verwahrlost, anderes verlassen, wieder anderes liebevoll hergerichtet. Zwischendurch eine Rasen- oder schlimmer noch, eine Steinwüste. Aber letzteres hält sich noch(?) in Grenzen, allerdings ist unübersehbar, dass Dorfbewohner es gern ordentlich haben - zumindest in der Masse. Aber die fehlenden Neubaugebiete verhindern ein zu eintöniges Bild. Es wechseln sich also in diesen abgelegenen, kleinen Dörfer größere Hofanlagen, kleinere Höfe, Neubauten aus den 1950er Jahren bis heute ab. Die Grundstücke sind meist nicht gleichmäßig, sondern oft regelrecht ineinander verschachtelt. Die Gärten sind groß, allerdings ebenfalls auch die Parkplätze vor den Häusern. 

Man sieht noch recht viel ältere Bäume und Büsche, jedoch sind die Rasenflächen recht ausgedehnt und kurz geschnitten. Der Blick auf die meist kurzgeschorenen Rasenflächen läßt den nostalgischen Blick schärfen. Echte Gemüsegärten gibt es so gut wie gar nicht, mal ein schon aufgeworfenes Kartoffelfeld, aber das war es, keine Bohnen oder Erbsen, Erdbeeren oder Stachelbeeren. Vielleicht sind diese Gärten schön hinter den Häusern versteckt, damit niemand etwas sieht. Aber das erscheint mir unwahrscheinlich. Vielmehr zeugen die durchaus liebevoll angelegten Gärten mit Büschen, Ziersträuchen, neckischen Figuren und Steinhaufen von dem Bemühen, es „schön“ zu haben, wobei das, was „schön“ ist, sehr im Auge des Betrachters liegt, wie es so schön heißt. Für einen Nutzgarten ist da wenig Platz - und vermutlich auch Zeit, denn die scheint knapp zu sein. 

Vielleicht ist in den Dörfern die Freude darüber, sich von der Mühsal der Landarbeit emanzipiert zu haben, immer noch zu ausgeprägt, als dass man dem eigenen Nutzgarten nachtrauern würde. Es stehen auch meist genügend Autos vor der Tür, um schnell zum nächsten Supermarkt fahren zu können, der sich im nächsten oder übernächsten Ort befindet. Es fehlt aber noch mehr. In diesen kleinen, stillen Dörfern gibt es schon längst keine Läden mehr, keinen Bäcker, keinen Dorfladen, keine Schule, keine Post. Sie sind alle mit den Nutzgärten ausgezogen und offenbar vermisst sie niemand ernsthaft. Das Leben funktioniert auch ohne sie ganz gut. 

Es ist nämlich noch etwas aus diesen kleinen, stillen Dörfern verschwunden: die Armut. Den Menschen hier scheint es durchgehend sehr gut zu gehen, davon zeugen die gepflegten Häuser und Gärten, der Zierrat an und um die Häuser, die mindestens zwei, meist neueren Pkw, daneben steht dann zuweilen auch noch ein Wohnmobil. Man ist wohlhabend. Die Armut, einst ein unumgänglicher Bewohner von Dörfern ist verschwunden oder zumindest nicht mehr sichtbar. 

Sichtbar ist ein schönes Stichwort, denn sichtbar ist auch anderes nicht, etwa die Menschen. Man kann durch mehrere Dörfer gehen, bei schönstem Wetter, es ist kaum jemand zu sehen. Nicht auf den Dorfstraßen, nicht vor den Häusern, nicht in Gärten. Man geht zuweilen durch eine verlassene, stille Idylle. Und stünden da nicht überall Autos vor den Häusern, sollte man meinen, dass die Menschen ihre Dörfer zusammen mit der Post, dem Nutzgarten, dem Dorfladen, der Dorfschule verlassen haben. Wo sind etwa die alten Frauen geblieben, die wiegend mit dem Fahrrad durchs Dorf fuhren? Wo die Kinder? 

Verschwunden ist auch die Landwirtschaft. Und das ist das Seltsamste. Sicher, wenn man sich dem Dorf zu Fuß, nicht per Auto oder per Rad, nähert, dann geht man durch Felder. Große Felder, zuweilen, aber nur sehr selten, eingehegt durch Hecken, manchmal immerhin noch umgeben von einem schmalen Ackerrain, aber sonst riesige Felder. Von Menschen verlassene Felder, die nur zu bestimmten Zeiten von riesigen Maschinen bevölkert werden. Kommt man dann in die Dörfer, dann gibt es dort höchstens noch eine Hofanlage zu sehen, auf der Landwirtschaft betrieben wird. Wenn man Glück hat. Allerdings haben Pferde wieder Einzug in manche Dörfer gehalten, Pferde zum Spaß und als Hobby, nicht als notwendige Nutztiere. Aber immerhin, es riecht dann ein wenig nach Tier und Mist. 

Vielleicht habe ich nur die falschen Bilder im Kopf, Bilder von Dörfern, die über Jahrhunderte ganz aussahen, in denen das Leben nicht so leicht und einfach war wie heute, die aber nicht verlassen waren von Ente, Pferde, Kuh, Schwein, Erbsen, Bohnen, Dorfschule oder Armut.