Partner

Wir denken uns Dörfer gern als Solitäre. Da liegen sie allein in der Landschaft, den Kirchturm in der Dorfmitte, alles andere überragend, die vielen roten Dächer, die in vielen Schattierungen in der Sonne sich spiegeln, das Ganze von wogenden Feldern umgeben, eine einsame Straße zu ihm hinführend, in geschwungener Form sich schlängelnd. Aber was, wenn dieses Bild zu sehr geschönt ist, was vor allem mit Dörfern, die Partner haben? Sie werden fragen, was ist denn in diesem Fall ein Partner? Vielleicht ist Partner auch nicht der richtige Begriff, sondern zunächst sind damit zwei nahe beieinander liegende Siedlungen gemeint, die mehr teilen als eine gemeinsame Feldflur. Mein Heimatdorf hatte solche eine nahebei liegende Siedlung, und in zwei bzw. vier solcher Siedlungen habe ich lange gearbeitet und teilweise auch gelebt. Beide möchte ich hier vorstellen, wobei das zweite Paar nur zu Vergleichszwecken herangezogen wird. Das erste, hier etwas genauer vorzustellende Paar liegt am Steinhuder Meer, es ist das Dorf Altenhagen und der Flecken Hagenburg. Das zweite Paar sind die beiden Dörfer Krainhagen und Röhrkasten, über die ich noch einmal separat schreiben muss. Am Südrand des Steinhuder Meeres liegen zwei Orte, der eine langgestreckt, dem Straßenverlauf folgend, der andere zwar auch langgestreckt, aber enger bebaut, mit Kleinbürgerhäusern statt mit Bauernhöfen. Im Ersten steht zudem, weit sichtbar, eine große, staatliche Backsteinkirche, die schon auf den ersten Blick als eine Kirche des 19. Jahrhunderts erkennbar ist. Das ist eigentlich verwunderlich, denn der Ort mit einer zentralörtlichen Erscheinung ist der zweite, der Flecken Hagenburg. Dem Bauerndorf Altenhagen „steht“ normalerweise keine Kirche zu. Dafür hat der Flecken ein Schloss anzubieten. Aber das sieht der Durchreisende nicht, bzw. er wird es bei einer schnellen Durchfahrt mit dem Auto kaum wahrnehmen. Dabei spielt dies Schloss für den Ort eine nicht geringe Rolle, wie noch zu zeigen sein wird. Mit Hagenburg und Altenhagen verbindet mich aber noch eine besondere Beziehung, genau genommen, die Zweitälteste meines Lebens, von meinen Eltern und meinem Sohn einmal abgesehen. Sie dauert mittlerweile 30 Jahre an.

Dorfgeschichte, so meine Erfahrung, lässt sich nicht erfassen, ohne den Kontext des Forschenden mit zu berücksichtigen.  Nur so ist es zu erklären, dass es Phasen intensiverer und Phasen schwächerer Forschungsaktivitäten gibt. Der Blick des Forschenden ist eben nicht neutral, sondern subjektiv. Diese subjektive Form der Wahrnehmung trifft auch bei den drei Orten zu, über die ich heute berichten möchte. Bewusst schreibe ich von Orten, nicht von Dörfern, denn einer dieser Orte, ist Hagenburg, also eine Fleckensiedlung. Da diese aber in einer engen räumlichen und sozialen Beziehung zu einem benachbarten Dorf, nämlich Altenhagen, stand, muss ich diese Siedlung mit einbeziehen.

Hagenburg und Altenhagen bin ich als junger Historiker vor über 30 Jahren begegnet. Dass ich in diesem Ort zwei Jahre meiner Schulzeit verbracht hatte und meine Arbeit als junger Historiker in eben der Schule begann, die ich einige Jahre zuvor als 12-jähriger verlassen hatte, war allerdings eher Zufall. Anfang der 1980er Jahre war es "in", Spurensuche zu betreiben, "Barfußhistoriker" zu sein oder solche zu unterstützen. Wissenschaftliche Meriten konnte man sich damit allerdings nicht erwerben, hatte doch eine der bedeutendsten Historiker der Zeit, Hans-Ulrich Wehler, sich eindeutig kritisch über diese jungen Historiker geurteilt, die Alltags- und Lokalgeschichte betrieben.
Das kümmerte uns aber nicht sehr. Vielmehr entdeckten wir, mit sehr unterschiedlichen Ambitionen, die Provinz. Diese wartete aber nicht unbedingt auf uns, wie ich am ersten Abend eines entsprechenden VHS-Kurses in Hagenburg feststellen musste. Genau eine Teilnehmerin war dabei. Das war aber mehr Ansporn für eine intensivere Werbung. Und so war es auch: Am zweiten Abend warteten vierzehn Teilnehmer, darunter viele Jugendliche, auf mich und eine wunderbare Geschichte begann, die über 30 Jahre andauerte.
In den folgenden Jahren beschäftigten wir uns also mit Hagenburg und Altenhagen. Dabei hatte ich doppeltes Glück.  Zum einen traf ich bald auf eine engagierte Frau aus Altenhagen, die ein besonderes Interesse für Dorfgeschichte entwickelt hatte. Und zum anderen war kurz zuvor ein Heimatforscher gestorben, dessen Nachlass eben diese Altenhägerin vor der Vernichtung gerettet hatte.
Wir hatten also teilweise sehr gut aufgearbeitetes Material zur Verfügung, so dass sich die Tatsache, dass das nächste Archiv weit weg war, nicht zu nachteilig auswirkte. Allerdings begannen wir die Arbeit zunächst damit, dass wir mit älteren Hagenburgern Interviews führten und ein noch sehr einfach gestaltetes Heft zur Dorfgeschichte veröffentlichten; fünf weitere sind in den Jahren danach noch erschienen.
Leider wurde die Sammlung des 1980 verstorbenen Heimatforschers nur intern von mir genutzt und nicht systematisch ausgewertet. Immerhin: Einige Quellen dazu wurden in der Lernwerkstatt Geschichte veröffentlicht.

Doch zunächst zu den beiden Siedlungen, wozu ein Blick auf die Landkarte sinnvoll ist. Eine gute Karte des Steinhuder Meeres mit Altenhagen und Hagenburg aus dem Jahre 1770 findet sich hier: http://www.digam.net/image.php?file=dokumente/4045/1.jpg&b=1200

Beginnen wir mit Altenhagen. Dieses Dorf gehört der hochmittelalterlichen Siedlungsphase an, als sich mittelalterliche Adelige ein größeres Herrschaftsgebiet dadurch zu sichern suchten, dass sie planmäßig neue Siedlungen anlegten. In diesem Fall gingen die Grafen von Roden südlich vom Steinhuder Meer von Hannover und Wunstorf her kommend weiter nach Westen vor und legten im 12. Jahrhundert die für diese Phase charakteristische Siedlung Altenhagen an. Wir können die Hagenhufensiedlung sehr gut bis um 1900 erkennen, selbst heute ist sie - wenngleich schon stark überbaut - noch zu erahnen. Die Siedlung erstreckt sich auf der einen Seite einer von Ost nach West verlaufenden Straße. Auf der einen Seite liegen die Höfe, hinter denen sich ein Feuchtgebiet erstreckt, das bis zum Ufer des Steinhuder Sees reicht. Auf der andern Seite der Straße, den Höfen direkt gegenüberliegen die Felder, also nicht in Gemengelage, sondern streng voneinander getrennt. Die Flurbereinigung des 19. Jahrhunderts war hier schon weitgehend vorweggenommen worden. Altenhagen war ein Bauerndorf von Beginn an und blieb es auch bis in das späte 18. Jahrhundert.

Eine typische Ansicht eines Hagenhufendorfes, des nicht weit weg von Altenhagen liegenden Auhagen findet sich hier:
http://www.histag-schaumburg.de/page/page_ID/114/action/112/call/image/image_ID/1?PHPSESSID=8f7431642508fa592bd85ffe17906265

Die von Roden gingen aber weiter nach Westen vor und legten vermutlich in direkter Verlängerung zu Altenhagen ein weiteres Hagenhufendorf an, den „Neuen Hagen“. Auf der Karte kann man den ungefähren Verlauf der Siedlungsbewegung erahnen. Erahnen deshalb, weil Hagenburg im 14. Jahrhundert eine entscheidende Veränderung erfahren hat. Aus dem Hagenhufendorf wurde eine Schlossansiedlung. Damit verschob sich nicht nur die gesamte Siedlungsanlage, sondern auch die Struktur der Siedlung. Aus dem Dorf wurde eine Fleckensiedlung. Das bedeutete nicht nur die Existenz einer Burg, sondern auch die Einrichtung zentralörtlicher Strukturen; ab 1555 war Hagenburg eine Fleckensiedlung, hier gab es ein landesherrliches Amt samt Amtsvorwerk, hier gab es eine Bürgerschaft mit dem Braurecht.

Im älteren Altenhagen blieben dagegen die Kirche und eine überregional bedeutsame Posthalterei. Beide Orte lagen an einer alten Poststraße, der heutigen B 441, einer der wichtigen Ost-West-Verbindungen im nördlichen Deutschland. Trotz dieser verbleibenden zentralen Funktionen war Altenhagen ein fast reines Bauerndorf, wie sich an wenigen Zahlen belegen läßt:

1768 gab es in Hagenburg
- 2 Vollmeier 8 Halbmeier 6 Köter 62 Brinksitzer, dazu kamen freie, also nicht
dienstpflichtige Leute: 6 Brinksitzer, 14 Anbauer

In Altenhagen dagegen gab es:
- 4 Meier 18 Halbmeier, davon 1 wüst, Köther: 9, Brinsitzer: 5 freie Leute: 4
Es gab also nicht nur jeweils doppelt so viele Meier und Halbmeier, sondern vor allem war der Anteil der Kleinststellen, also der Brinksitzer und Anbauer in Hagenburg weitaus höher: 82 hier, 14 dort (die Köter rechne ich nicht dazu).

Aus dem Jahr 1766 stammt die erste Bevölkerungszählung Schaumburg-Lippes. Sie unterscheidet zwischen „haushäbiger“ Bevölkerung, Hausbesitzern, und Einliegern, also Einwohnern, die nicht einmal über ein eigenes Haus verfügten. Das Gesinde wird übrigens der haushäbigen Bevölkerung zugerechnet.

In Hagenburg wurden damals 621 Einwohner gezählt, in Altenhagen waren es 269, und dass, obwohl die Gemarkung Hagenburgs mit ca. 1200 Morgen deutlich kleiner ist als die Altenhagens (1770 Morgen). Noch mehr: Jeder sechste Einwohner in Hagenburg war ein Einlieger (102), in Altenhagen war es lediglich jeder zehnte (24). Das war allerdings, verglichen mit anderen Bauerndörfern im Amt Hagenburg, immer noch vergleichsweise viel; in Pollhagen gab es 21 Einlieger bei 325 Einwohnern, in Wölpinghausen 21 bei 363 Einwohnern.

20 Jahre später, 1786, lebten in Hagenburg 704 Menschen, die Zahl der Einlieger war allerdings konstant geblieben (103), in Altenhagen war deren Anteil ebenfalls leicht zurückgegangen: Gesamt 303, davon 25 Einlieger.

Wir hatten seiner Zeit auch aufwendig die Kirchenbücher ausgewertet und waren dabei auf weitere Unterschiede im demographischen Geschehen gestoßen: In Hagenburg gab es erkennbar mehr voreheliche Konzeptionen als in Altenhagen, was wir als Hinweis auf eher dörfliche Verhältnisse im Bauerndorf angesehen haben. Aber beide Dörfer waren eng miteinander verbunden, etwa jede zweite Ehe wurde zwischen Bewohnern dieser beiden Dörfer geschlossen, der Rest verteilte sich auf ein vergleichsweise großes Gebiet um das Steinhuder Meer, bzw. vorrangig im südlichen, westlichen und östlichen Bereich um das Steinhuder Meer.

Das Besondere an Hagenburg/Altenhagen war aber, ich hatte es schon erwähnt, die Höfeakten. Dieses waren, wenn ich es richtig sehe, eine Besonderheit Schaumburg-Lippes. Zu deren Bedeutung fällt mir ein aktueller Bezug ein: Wir leben in einer Zeit, in der immer mehr heterogene Informationen über die eigene Person an einer Stelle gebündelt werden können. Wir sprechen schon seit längerem vom gläsernen Bürger. Dabei ist diese Entwicklung keineswegs so neu. Insbesondere im 18. Jahrhundert versuchten die Verwaltungen zum ersten Mal, systematisch alle verfügbaren Informationen über die Untertanen zu erfassen und auszuwerten. Erste Bevölkerungszählungen wurden durchgeführt und am Ende des Jahrhunderts entstand die moderne Bevölkerungswissenschaft. Parallel dazu wurden aber auch alle anderen Behördenaktivitäten erweitert. In Schaumburg-Lippe gab es darüber hinaus eine weitere Besonderheit. Dort hatte sich eine besondere Form des Feudalstaates entwickelt. Zwar war der Landesherr der größte Grundherr des Landes, aber bei weitem nicht der alleinige. Er hatte aber, was oft übersehen wird, über die meisten Höfe, ca. 90 %, die Gerichtsherrschaft und damit den zentralen Zugriff auf die Höfe. Verwaltet wurde der gesamte vom Landesherrn verwaltete Grundbesitz über die Rentkammer, die zudem in enger Kooperation mit den regionalen Amtsverwaltungen stand. So bündelten sich in einer Behörde alle einen Hof betreffenden Vorgänge für die zweite Hälfte des 18. und die erste Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Allerdings mussten Ereignisse eintreten, die ein Eingreifen der Rentkammer und des Amtes erforderlich machten. Hierzu gehörte vor allem eine Überschuldung der Höfe. Ein solcher Fall trat ein, wenn ein Hof nicht mehr in der Lage war, seine finanziellen Verpflichtungen zu erfüllen, also nicht mehr die Zinsen des geliehenen Kapitals aufbringen konnte. Das klingt vergleichsweise einfach aus. Sieht man sich allerdings die Praxis an, so wird deutlich, dass die Dinge etwas komplizierter waren. Verschuldung, d.h. Kreditaufnahme, war keineswegs selten auf den Dörfern. Einerseits gab es immer Mangel an Bargeld, andererseits den Wunsch, durch das private Verleihen von Geld dauerhafte Einkommen zu sichern. Es gab also in den Dörfern ein Netzwerk von Geldgebern und -nehmern. Es schuf Abhängigkeit, Beziehungen, Sicherheiten.

Sicherheiten: Geldgeber verlangten auch schon vor 300 Jahren nach Sicherheiten. Doch welche konnten sie damals erlangen? Land und Vieh standen an erster Stelle. Land aber war problematisch, denn der Landes/Grundherr wollte gerade verhindern, dass seine Bauern Land verloren. Deshalb wurde schon um 1600 versucht, die Kreditvergabe genau zu kontrollieren - vergeblich, wie sich in den nächsten beiden Jahrhunderten immer wieder herausstellte. Landbewohner hatten immer wieder Bedürfnisse, mal eine größere Anschaffung, mal ein neues Hemd. Nicht immer war Geld vorhanden und so lieh man es sich. Im Laufe der Jahre konnten dadurch erhebliche Schuldenberge anwachsen, die so groß wurden, dass die auflaufenden Zinsen nicht mehr aufgebracht werden konnten.
Für diesen Fall gab es in Schaumburg ein förmliches Verfahren, die Äußerung. Sie hatte folgende Elemente:

- Die Schulden des Hofes wurden systematisch erfasst und nach „consentierten“, also genehmigten, und nicht „consentierten“ Schulden unterschieden.
- Zur Erfassung der Schulden wurden amtliche Bekanntmachungen erlassen und die Gläubiger aufgefordert, sich zu melden.
- Anschließend wurden bei einer öffentlichen Versteigerung das Mobiliar, das Vieh und das Ackergerät versteigert.
- Das Ackerland des Hofes wurde für 6 oder 12 Jahre verpachtet.
Von den Einnahmen der Versteigerung und der Verpachtung wurden die vorhandenen consentierten Schulden bzw. deren Zinsen bezahlt, außerdem die öffentlichen und feudalen Abgaben. Der Bauer selbst durfte die Leibzucht des Hofes beziehen, wozu neben einer kleinen Wohnung auf dem Hof auch Ackerland, Wiesen, Weiden und anderes gehörte.

Wenn der Hof nach der Äußerungszeit von zunächst meist 12 Jahren schuldenfrei war, wurde er wieder an den Bauern ausgegeben.

Sehen wir uns einmal einen solchen Fall an.
Die zitierten Akten finden sich auch hier: http://www.lwg.uni-hannover.de/wiki/Altenhagen_Hofakten

Eine Präsentation dazu findet sich unter:
http://prezi.com/y4el5cl8dygp/present/?auth_key=0m0h8a1&follow=rswsx29u3q56&kw=present-y4el5cl8dygp&rc=ref-4637913

Was sagen uns die Akten über das dörfliche Leben nun?
Zumindest im Falle des genannten Hofes zeigt sich, wie knapp die Ressourcen der Höfe zuweilen waren. Große Überschüsse konnten nicht alle erwirtschaften. Wenn dann ein Hof in die Überschuldungsfalle getappt war, blieb er auch über Jahrzehnte in dieser gefangen.
Das wäre das eine, das andere sind die vielfältigen familiären und ökonomischen Beziehungen des Hofes. Sie reichen immer wieder über das Dorf hinaus, ja noch mehr, das Dorf ist keineswegs der entscheidende Bezugspunkt. Vielmehr befindet sich der Hof in einem kleinen regionalen Netzwerk, das auch zumindest die benachbarten Orte, teilweise darüber hinaus umfasst. Es sind gerade diese Quellen, die meine Ansicht fördern, dass der „Sozialraum“ Dorf keineswegs der entscheidende bzw. allein ausschlaggebende Aktionsraum dörflicher Bevölkerung war.

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