Das alte Dorf

Eigentlich wollte ich an dieser Stelle etwas über das alte Dorf Lindhorst schreiben, denn wie schon die Namensendung zeigt, ist das Dorf deutlich älter als die benachbarten Siedlungen im nördlichen Schaumburg. Doch dann habe ich mich eher auf die jüngere Geschichte konzentriert, wie gleich zu sehen sein.

Übrigens: der aktuelle Wikipedia-Artikel über Lindhorst ist einfach nur schwach, den Namen Rothe kennen die Verfasser dieser Seite auch nicht. Es ist leider kein Einzelfall eines schlechten Artikels über ein Dorf. Insofern ist der Titel dieses Artikels eigentlich nicht richtig. Ich habe ihn aber doch stehen lassen.

Lindhorst, an der Eisenbahnstrecke zwischen Wunstorf bzw. Hannover und Bückeburg gelegen, hat mich im Laufe der Jahre mehrfach beschäftigt. Die erste nachhaltige Begegnung erfolgte während meiner Dissertation über die ländlichen Verhältnisse in Schaumburg-Lippe. Es gab eine ältere Dissertation, die in einer damals unbekannten, intensiven Art Dorfgeschichte erforscht hatte. Der Autor hatte Anfang der 1950er Jahre vor allem statistische Verfahren genutzt, um Aspekte von dörflicher Entwicklung heraus zu arbeiten, die bis dahin kaum in den Fokus der Betrachtung geraten waren. Dazu gehörte das generative Verhalten der Dorfbewohner. In vielen Punkten war diese Arbeit wegweisend. Insofern war es auch keine Zufall, dass sie Mitte der 1970er Jahre von drei jungen Wissenschaftlern am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen genutzt wurde, um ein Forschungsthema zu bearbeiten, das erst kurz zuvor von einem jungen Wissenschaftler thematisiert worden war: der Proto-Industrialisierung bzw. der Industrialisierung vor der Industrialisierung. Es gab  noch einen anderen, banalen Grund, weshalb diese Arbeit damals in Göttingen ausgewertet werden konnte. Sie war in Göttingen erschienen und lag nur in wenigen hektografierten Ausgaben vor. Eine gab es auch im Staatsarchiv in Bückeburg, wo ich sie samt ihres umfangreichen Anhangs intensiv genutzt habe. Jahre später gelang es, zusammen mit der Schaumburger Landschaft, diese Arbeit doch noch zu drucken.
Und dann sind mit Lindhorst und seinen Nachbardörfern noch besondere Bilder verbunden: die von Trachten tragenden Frauen, Zeugen einer besonderen ländlich-dörflichen Kultur.

Diese Frauen wurden in der NS-Zeit reichsweit bekannt, hatten sie doch während der Erntedankfeste auf dem Bückeberg immer ihren medienwirksamen Auftritt. Insofern waren die Dörfer in der Propaganda der Nazis und vermutlich auch in der Erinnerung vieler Deutscher so etwas wie Musterdörfer. Dass diese Bilder nicht so wirklich stimmen können und die Trachtenträgerinnen schon in den 30er Jahren zu Folklore wurden, zeigen uns zwei Fotos von Konfirmanden. Das erste stammt aus dem Jahr 1920 und zeigt ein einziges Mädchen, die Tochter des Dorfschullehrers, welches keine Tracht trägt. 23 Jahre später, während des Krieges, haben sich die Verhältnisse radikal verändert: Nur noch ein Mädchen trug nun noch Tracht und wirkte dabei nicht wirklich glücklich - einige ihrer Freundinnen hatten sich ohne sie zu informieren entschlossen, sich "umzuziehen", also bürgerliche Kleidung anzulegen.

Der erste Teil der folgenden Ausführungen basiert zu einem guten Teil auf dieser Arbeit von Hans-Werner Rothe. Ein paar Jahre nach meiner ersten Begegnung mit Lindhorst arbeitete ich dort als Historiker. Zunächst gab es ein Projekt mit Jugendlichen, dann einen Volkshochschulkurs mit älteren Frauen und Männern. Im Verlauf dieses Kurses edierten wir nicht nur eine Schulchronik, die die Jahre 1907 bis 1945 zum Gegenstand hatte, ich lernte auch einen alten Lehrer, Herrn Heine, kennen. Herr Heine war damals schon über 80 Jahre alt, ein großgewachsener schlanker alter Mann mit einer Vollglatze, einem herben Humor und vielen Unterlagen aus seiner Zeit als Lehrer und nach 1945 Schulleiter der Magister-Nothold-Schule in Lindhorst.

Mit den Volkshochschulteilnehmern, die heute alle schon tot sein dürften, betrieb ich u.a. intensive Aktenforschung, etwa zur Geschichte Lindhorsts in den Napoleonischen Kriegen. Doch das Besondere an der Arbeit in Lindhorst war die Auseinandersetzung mit Krieg und Nationalsozialismus. Sie ergab sich eigentlich fast wie von selbst. Die Teilnehmer waren damals, Ende der 1980er Jahre, 65 bis 70 Jahre alt. Alle waren während des Krieges schon Erwachsene gewesen und hatten in der einen oder anderen Form an ihm teilgenommen. Sie zwängten mir das Thema regelrecht auf, denn eigentlich wollten wir andere Themen bearbeiten. Sie aber redeten immer und immer wieder von dem Krieg. Und so entstand daraus ein Interviewprojekt, das von den ca. 10 Teilnehmer sehr engagiert und professionell realisiert wurde. Die Ergebnisse präsentierten wir in einer ca. 100 Seiten umfassenden Broschüre mit dem Titel "Ehe es ganz in Vergessenheit gerät." Damals war ich beeindruckt von der Offenheit, mit der die Teilnehmer ihre Erinnerungen berichteten, heute, beim erneuten Lesen, kommen wir Zweifel. Vieles klingt harmlos, unbedarf, weder die Schrecken des Krieges noch die Bestialität des Nationalsozialismus klingen hier häufiger an. Es erinnert vieles an die Erinnerungen und Filme zum Nationalsozialismus und Krieg.

Es ist nicht so, dass es keine Schrecken oder Verbrechen gibt, aber sie erscheinen in einem abgeschwächten, gedämpftem Licht. Eine Interviepartnerin antwortete auf die Frage, wie sie den Nationalsozialismus gesehen habe:

„Als so schrecklich habe ich das nicht empfunden. Ich hab das nachher erst mitbekommen. Ich bin 1943 eingetreten in den Eisenbahndienst, das waren ja auch noch zwei Kriegsjahre. Ich meine so diese Leute, die transportiert worden sind in die Konzentrationslager, sind ja viele mit der Eisenbahn transportiert. Bergen-Belsen ist ja gar nicht so weit von uns. Daß man das nicht mitbekommen hat! Aber ich habe das mal gehört, daß sich die Männer mal unterhalten haben, daß mein Chef damals, den ich dann hatte nach 45, der war früher Bahnhofsvorsteher auf dem Hauptbahnhof, daß der mal sagte, daß da Züge so gestanden haben mit Leuten drin, die waren am Verdursten, da hat er gesagt: „Da kommt Wasser hin. Auf meinem Gelände soll keiner verhungern und verdursten.“ Das wollte er nicht haben. Aber die Züge wurden ja bewacht von diesen Parteileuten, das war ganz schlimm. Daß die das nicht zulassen wollten, daß den Leuten was gereicht wurde. So war die Einstellung.“

Das war noch eine der deutlichsten Auskünfte. Ansonsten gibt es kaum Verbrechen, sondern nur den Alltag des Krieges mit seinen Ängsten, kleinen Freuden, zuweilen auch Entsetzen. Deutlich wird dies auch bei der Frage, wie mit die Kriegsgefangenen behandelt wurden. Eine andere Lindhorsterin berichtete dazu:

"Unser Heinrich [ihr Bruder] hatte einen Franzosen als Knecht. Da war Mutter, die hatte einen kleinen Schlaganfall gehabt, da hat er immer zu meiner Schwägerin gesagt: „Frau, erst Mutter raus, erst Mutter raus!“ Der hat sich dafür eingesetzt, als wär es seine eigene gewesen. Auf den Menschen konnte man bauen. Ja, genauso wie hier bei Dettmeiers der Pole gewesen ist. Er hieß Stanis, er war immer ernst, er machte immer ein ernstes Gesicht. Na, und der hatte wohl mal Windpocken gehabt und hatte ein pockiges Gesicht, ansehnlich war er nicht. Aber wirklich, wir konnten ganz gut mit ihm. Wenn der pflügte für uns: „Stanis, machst es aber gut.“ „Frau gut“, sagte er dann. Und wenn er dann fertig war, sagte er: „Frau, gut jetzt?“ „Stanis hast du das wieder gut gemacht.“ Und dann mochte er gern ein „Stutenbotter“ und das bekam er dann, Tasse Kaffee dazu. Dann hat er gepflügt, das glaubt man gar nicht. Ich weiß, Heinen Vadder sagte, der kam dort vorbei: „Maike, wat hat de Junge dat schön e'maket.“ Und wir verstanden uns gut mit ihm. Und dann nachher, als der Krieg vorbei war, da haben Lührsens Oma und Frau Dettmeier gesagt, Stanis, wenn dir nun was fehlt, dann komm bei Tage, und du kriegst, was dir fehlt, komm. Und er ist dann ein paar mal wieder dagewesen, und bekam, was er haben wollte. Aber überfallen, das hat er nicht gemacht. Konnte er ja auch gar nicht, er war ja von allen gut aufgenommen worden. Und das lag ja hier an den Leuten selbst, wenn sie nun nachher kamen und plünderten.“

Diese Geschichte ist so vertraut, sie könnte aus fast jedem Dorf stammen, und hinterläßt gerade deshalb Irritationen. Im Zentrum eigentlich aller Berichte standen Angst, sowie Versuche, mit dem Krieg klarzukommen und eigenes, menschliches Verhalten. In ihrem weiteren Bericht werden zunächst noch die Zwangsarbeiter erwähnt, dann geht sie zu ihrem Bruder Heinrich wieder über, der über seine Erlebnisse im besetzten Frankreich mit "Zivilmenschen" folgendes mitteilte?

„Und das soll man doch auch nicht, das sind doch auch Menschen, die wollen doch auch keinen Krieg. Also wirklich, ich sagte immer, also Heinrich ist doch auch im Auslande und mit Zivilmenschen zusammen, die wollen doch auch keinen Krieg, und wir doch auch nicht. Ich weiß noch, als Heinrich nach dem Frankreichfeldzug, als er dann wieder zu Hause war, sagte: „Ja, wie ist das schrecklich, wenn du schießen sollst und du sollst auf Menschen halten, die dir nichts getan haben.“ Er sagte: „Das geht dir durch Mark und Bein.“
"Ich weiß, als er da in Frankreich gewesen ist – das fällt mir jetzt ein, da sollten sie in einem Haus auch plündern, alles von der Wand reißen, und da hat er sich geweigert, und dann mußte er zum Hauptmann kommen. Warum [er nicht geplündert habe]? Da hat Heinrich gesagt, das könne er mit seinem Gewissen nicht verantworten, er wäre Christ. Er könne es nicht und er täte es nicht. Es ist nichts danach gekommen.“

Zu unserer Frage nach dem Dorf sind die Berichte dagegen eine gute Quelle. Lindhorst lag (und liegt) wie schon erwähnt, an der Eisenbahnlinie von Minden nach Hannover, bzw. Köln nach Berlin. In Lindhorst selbst gab es einen sogenannten "Anhalt", später kleinen Bahnhof mit eigenen Bahnbeamten. Vor allem aber arbeiteten schon in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts viele Dorfbewohner in Hannover. Sie erlebten damit den Krieg aus einer doppelten Perspektive. Zum einen der des Dorfes, das vergleichsweise gut den Krieg überstand, auch wenn es auf dem flachen Lande ebenfalls Bombenabwürfe gab oder deutsche Jagdflugzeuge abstürzten. In Lindhorst gab es allerdings wie bei anderen Dörfern, die an der Bahnstrecke lagen, seit 1943 und dann erst recht ab 1944 verstärkt Tieffliegerangriffe, wie aus dem vorgelesenen Brief eines Onkel Karl vom August 1944 hervorgeht:

2.4.1944, Onkel Karl schreibt: "Nachdem ich im November zur Musterung war, muß ich am 5.4., also am Mittwoch, schon wieder zur Musterung; ebenso alle Jahrgänge bis 1884 ... Die Fliegertätigkeit ist hier alle Tage groß. So haben die Flieger vor einigen Tagen einen fahrenden Güterzug zwischen Vornhagen und Lindhorst mit M.G. beschossen, ferner den fahrenden Personenzug von Leese nach Stadthagen, die Lokomotive zerschossen und drei Mann tot. Bei Winzlar ist am selbigen Tage ein angeschossener amerik. Viermot. Bomber notgelandet. Die Bauern auf dem Felde sind sogar mit ... MG beschossen worden. Es wird mit jedem Tag brenzliger"

Auch aus den folgenden Wochen gab es ähnliche Berichte, die Bahnlinie sorgte immer wieder für Angriffe, die Dörfer in der Nähe des Steinhuder Meeres (wie das erwähnte Winzlar) lagen dagegen in der Einflugschneise nach Hannover. Bei Fliegeralarm mussten auch die Menschen in den Dörfern in die Keller gehen.
Dennoch konnten die Unterschiede zu Hannover kaum größer ausfallen, wie der Bericht einer Frau aus Beckedorf zeigt:

„Ab 1943, nach dem großen Angriff auf Hannover. Der war ja im Oktober, nach dem wurde das eigentlich ein bißchen schlimmer. Sicher, die Dörfer sind nicht angegriffen worden, höchstens mal ein Notabwurf. Und hier an der Bahn lang waren dann mal so ein paar Trichter. Und da bei Rehren, wo die Brücke da ist. Ein Loch ist da heute noch, da haben sie eine Viehtränke draus gemacht. Was ist sonst noch passiert? Einmal haben sie hier einen Tieffliegerangriff auf den Schacht gemacht. Die Einschüsse hat man immer noch gesehen.
Hannover sah böse aus, Zentrum und so. Der Hauptangriff war ja am 8. Oktober. Wir haben das denn die Nacht von hier aus gesehen: die Tannenbäume, Christbäume, das hat man alles von hier aus gesehen. Und ja, wir mußten ja hin zum Dienst. Dann kamen wir an in Leinhausen, dann mußten wir diese lange Haltenhoffstraße entlang marschieren, Engelbosteler Damm, Klagesmarkt, Schumacherstraße … Wir kamen denn da rein, und links und rechts brannte es, die Fenster rausgebrannt, es qualmte, Leute liefen da rum, und dann waren da welche, die suchten ihre Leute, und haben dann da gebuddelt, die Trümmer weggeschafft. Wir haben es dann geschafft und sind hingekommen zum Bahnhof. Da trugen sie denn auch die letzten Leute aus dem Bunker, da war das in dieser großen Vorhalle, und dieser Eingang vom Bunker, der war auch zugefallen und da waren sie nun dabei und, ja. Und die Soldaten z.T., ich war vorher auch mal im Bunker bei einem kleineren Angriff, die waren ja auch erstaunt, die so auf Urlaub waren, die meinten auch, daß es hier schlimmer wäre als an der Front.

Als Pendler jedoch erfuhren sie jeden Tag, wie es in der benachbarten Großstadt aussah. Die Folgen des sich permanent verschärfenden Bombenkrieges waren somit Teil des normalen Arbeitsalltags. Sie zeigen auch, dass in Dörfern wie Lindhorst die Menschen keineswegs in einer abgeschotteten ländlichen Welt lebten, sondern ein wichtiger Teil zumindest ihrer beruflichen Existenz außerhalb des Dorfes stattfand. Wenn in den 1950er Jahren dorfsoziologische Untersuchungen das "Stadt-Land-Kontinuum" beschrieben, so finden wir es in diesen Berichten über den Zweiten Weltkrieg in Lindhorst ebenfalls.
Dorf, das zeigen ebenfalls Studien aus den frühen 1950er Jahren, war in geschlechtsspezifischer Hinsicht besonders dort rückständiger, wo kleinbäuerliche Verhältnisse dominierten. Frauen waren klare Rollen zugewiesen, die ihre beruflichen Perspektiven stark einschränkten. Schon in anderen Gesprächen mit den älteren Dorfbewohnerinnen wurde deutlich, dass die 1930er Jahre für sie eine Wende darstellten und sie neue Perspektiven für sich entdeckten. Die BdM-Fahrt mit dem Fahrrad gehörte etwa dazu. Wovor viele junge Frauen regelrecht zurück schreckten, war eine Anstellung beim Bauern, wie auch diese Interviewpartnerin deutlich machte:

Als Frau erlebte L.B. den Krieg in Rußland:
„Ich wollte wohl eine Stelle annehmen, aber da sollte ich zum Bauern, und das wollte ich nicht.
>Ich meldete mich zum Roten Kreuz und machte einen Kursus in Hildesheim, einen Schnellkursus, das war in Hildesheim auf dem Vogelsberg. Ja, das dauerte so 14 Tage, dann kam ich wieder nach Hause und erhielt einen Gestellungsbefehl – ich mußte gleich wieder zum Osten. Wir mußten uns in Hannover sammeln, im Wartesaal dort; wir wurden eingekleidet. Na ja, dann ging es in den Zug nach Warschau. Dort mußten wir aussteigen und 8 Tage bleiben. Wir schliefen auf dem Fußboden und hatten nur eine Decke. Es waren weder Möbel noch sonst etwas in dem Raum. Dann wurde für uns ein Salonwagen organisiert, mit dem wir dann weiterfuhren nach Rußland hinein.
Wir fuhren bis Smolensk, dort war nichts mehr – nur noch Schornsteine. Dann fuhren wir zurück nach Pleskau, in Pleskau war auch nichts, dann sind wir gefahren zum Ilmensee Zarajarussa. Ach so ja, einen Küchenwagen bekamen wir auch noch dazu, damit wir uns verpflegen konnten – wir hatten aber einen Küchenchef dabei, der kochte für uns. (Zwischenfrage: wie groß war eure Gruppe?) 20 waren wir. Ja, in Stara Russa war auch nichts für uns; welche mußten Lazarettdienst machen und zwei Küchendienst – dazu gehörte ich, so daß ich die ersten acht Tage Küchendienst hatte. Drei Wochen sind wir dort gewesen, dann hieß es wieder, Koffer packen, und wir fuhren weiter nach Gatschina."

Die gern verdrängte Tatsache, dass dieser Krieg nicht allein ein Krieg der Männer war, auch wenn sie immer noch exklusiv im Kampfeinsatz waren, sondern zunehmend der Frauen, wurde nicht nur in diesem Interview deutlich, sondern auch in anderen. Neben Frauen, die beim Roten Kreuz arbeiteten, gab es welche, die als Telefonistinnen und in vielen anderen Berufen sich emanzipieren konnten.

Zu einer Frage äußerten sich nur wenige Teilnehmer: dem Schicksal der örtlichen Juden. Viele gab es nicht, aber es gab sie und sie galten als integriert. Bemerkenswert die Verdrehung der Tatsachen. Eine Gruppe von Schülern fuhr mit einem jüdischen Mitschüler gemeinsam zur Oberschule in der nahe gelegenen Kreisstadt mit dem Fahrrad. Als der Ortsgruppenleiter davon erfuhr, verbot er es den Jungen. Darauf zog sich der Mitschüler zurück - was blieb ihm anderes übrig.

Es ist hier nicht der Ort, die damals geführten Interviews als Quelle zur Geschichte des Nationalsozialismus in unseren Dörfern zu thematisieren - dafür reichen sie allein nicht aus. Aber sie führen in eine dörfliche Realität, die weitab liegt von den gemeinhin gängigen Bildern vom nach außen weitgehend abgeschlossenen Dorf. Die Rekonstruktion der damaligen Lebensbezüge ist immer noch eine Herausforderung, die von der Wissenschaft nicht angemessen angenommen worden ist.

Der Titel des mehrfach erwähnten Buches lautet:
Rothe, Hans Werner: Zur Geschichte der ländlichen Gesellschaft im Schaumburger Land: Lindhorst, Melle 1998 , die Dissertation erschien erstmals 1953.
Die Interviews wurden in einer in kleiner Auflage erschienenen Schrift veröffentlicht:
„Bevor es ganz in Vergessenheit gerät ...” Zeitzeugen erinnern sich an die 1930er und 40er Jahre in und um Lindhorst. Hrg. Schaumburg-Lippischer Heimatverein, Ortsgruppe Lindhorst. Lindhorst 1984.

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