Sonntag, 20. März 2022

Gehen

Gehen auf dem Land, gehen in der Stadt

Vor über 30 Jahren gab es eine Broschüre, in der das Leben auf dem Land und mit dem in der Stadt miteinander verglichen wurde. Das betraf auch das Gehen. Auf dem Land sah man einen Fuß in einem Holzschuh, in der Stadt einen Frauenfuß in High-Heels. Nun traf dieser Vergleich schon damals nicht zu. Und heute erst recht nicht. Gehen in der Stadt bedeutet, gehen in Sneakern, nur selten in hochhackigen Schuhen. Und auch in den 1980er Jahren ging auf dem Land kaum noch jemand in Holzschuhen. Und heute? Genau genommen geht man oder frau gar nicht mehr. Mann oder Frau fährt. Wobei „Fahren“ nicht im Sinne der Bergleute gemeint ist, für die jede Art der Fortbewegung „Fahren“ ist, sondern ganz konkret. Während in der Stadt auch noch mit dem Rad gefahren wird, findet das auf dem Land nur selten statt. Fahren heißt ganz konkret Autofahren. 

Das Autofahren ersetzt nahezu das Gehen, manchmal wirkt es so, als seien selbst wenige Meter nicht mehr zumutbar. Spricht man diese Fahrer an, so kommt relativ häufig entweder das Argument, dass man auf dem Lande eben fahren müsse oder es alten Menschen nicht zumutbar sei, zu gehen. Das letzte Argument ist schon interessant, denn zumindest in der Kleinstadt, in der ich seit ein paar Jahren lebe, sind die größte Gruppe der Fußgänger die Rollator-Geher, denen übrigens ein furchtbares Kopfsteinpflaster zugemutet wird - das war mal die neueste Errungenschaft der Stadtplaner vor 30 Jahren. Die zweite Gruppe der Geher sind dann noch Schüler. Ansonsten wird Auto gefahren! Und das erste Argument überzeugt mich nicht wirklich. Klar, gibt es auf Land keinen so gut ausgebauten ÖPNV wie in der Stadt, aber das ist auch eine Folge des verbissenen verteidigten PKW-Verkehrs. Die Fahrt mit einem Bus ist nicht nur unpraktisch, sondern auch - im Vergleich zur Stadt - unverschämt teuer. Die mittlerweile Fahrdienste für Ältere sind nett, aber lösen das grundsätzliche Problem nicht. 

Die derzeit so beliebten Neubaugebiete werden das Problem noch verschärfen, denn während die Kommunen gezwungen sind, Kitas zu bauen und zu unterhalten, gibt es keinen Zwang, Geschäfte für den täglichen Bedarf im eigenen Ort vorzuhalten. Selbst wenn man ohne Probleme zu Fuß zum nächsten Supermarkt gehen könnte, wird gefahren. Es sei ja so viel zu tragen, da brauche man das Auto, wird dann gesagt. Ach, habt ihr eine Ahnung, was man alles tragen kann!

Dieser Aspekt geht aber noch weiter. Betrachtet man die Lebensverhältnisse im „alten Dorf“, also dem Dorf, wie es etwa bis in die 1950er Jahre in Resten noch bestanden hat, dann war ein zentrales Kennzeichen der vorsichtige Umgang mit Ressourcen. Das war im 20. Jahrhundert noch ein Erbe der vorindustriellen Gesellschaft, in der alles knapp war: Menschen, Energie, Boden. Spätestens seit den 1950er Jahren setzte ein struktureller Veränderungsprozess ein. Das Dorf verlor immer mehr seine zentrale Funktion als Nahrungsmittelproduzent (auch wenn es schon seit der Frühen Neuzeit auch andere Funktionen hatte). Landwirtschaft wurde zunehmend marginalisiert, das Dorf verlor seine bisherige ökonomische Funktion als Standort landwirtschaftlicher Produktion und wurde Wohnstandort. Zudem ermöglichte die zunehmende Individualmotorisierung neue Formen der Arbeit und der Versorgung mit Verbrauchsgütern. Das Dorf wurde Wohnort - die Dörfer der DDR bildeten bis zur Wende eine interessante Alternative. Mit der Zunahme gesamtgesellschaftlichen Wohlstands veränderten sich nur die Handlungsmuster und Lebensläufe von Dorfbewohnern, sondern auch der Umgang mit Ressourcen. Knappheit verschwand aus dem Horizont. Bis dahin innerörtliche Arbeits- und Kommunikationsprozesse wurden immer stärker nach außerhalb  verlagert. Und das ging nur mit dem Auto. Der steigende Wohlstand auch im Dorf führte dazu, dass die Anteile an Eigenversorgung, die bis in erste Nachkriegszeit für praktisch alle dörflichen Haushalte nicht nur typisch, sondern auch lebensnotwendig waren, verschwanden. Wir können das heute sehr schön sehen bei den Flüchtlingssiedlungen der 1950er Jahre. Die Häuser hatten immer  ein Stallgebäude (entweder angebaut oder separat) und einen großen Garten. Hier wurde ein Schwein gehalten (oder auch zwei), im Garten wurden Gemüse und Kartoffeln angebaut. Das machte allerdings viel Arbeit, besonders für die Frauen. Ich erinnere mich noch gut an meine Großmutter, die im Sommer frühmorgens aufstand, um etwa Erbsen zu pflücken, die dann von ihr ausgepuhlt wurden, später dann eingekocht. Und ganz selbstverständlich wurde von uns Kindern erwartet, dass wir bei diesen Arbeiten mithelfen. Ein besonderer Augenblick war die Ernte der ersten Kartoffeln (nachdem wir uns vorher mit den Kartoffelkäfern einen kleinen Krieg geleistet hatten). Wer irgend konnte, hatte auch noch etwas Pachtland, das ebenfalls beackert werden musste. 

Mit dem zunehmenden Wohlstand wurden diese Flächen überflüssig. Das Pachtland wurde aufgegeben, die Feldfluren mit ihren vielen kleinen Pachtflächen wurden jetzt nur von den Bauern bearbeitet. 

Gemüse und anderes konnte man billiger und besser kaufen, zunächst vielleicht noch im Dorfladen, dann aber im Supermarkt der nächsten Kleinstadt, die man ja mit dem Auto so leicht erreichen konnte. Aus den großen Gärten wurden Rasenwüsten - das samstägliche Rasenmähen ersetzte nun die mühevolle Bestellung des Gartenlandes.

Inzwischen haben sich Verhaltensweisen auf dem Lande eingeschliffen, die nur selten durchbrochen werden. Der pflegeleichte Hof möglichst gepflastert, der tote Rasen, mindestens zwei Autos pro Haushalt - all das erscheint so selbstverständlich, dass eine andere ländlich-dörfliche Lebensform kaum noch vorstellbar zu sein scheint. Ja, ich weiß, es gibt auch Ausnahmen, aber es sind eben - Ausnahmen. 

Der Flächenverbrauch im Umkreis der Großstädte nimmt weiter zu, ein Neubaugebiet neben dem anderen, genau dort, wo vor 200 Jahren garantiert niemand gebaut hätte - auf dem besten Ackerboden. Doch dieser ist im Zuge einer grünen Wende zu einem No-Go uminterpretiert worden. Gewiss, wir brauchen wieder mehr naturnahe Flächen, aber eben auch mehr Ackerland, wenn wir gesund und regional leben wollen. Was wir nicht brauchen, ist eine weitere Versiegelung des Landes, aber das geht nur mit einer radikalen Wende, wozu auch der stärkere Verzicht auf das Autofahren gehört.  

Mehr „Gehen“ kann man auch sehen als ein Anerkennen der Tatsache, dass eben nicht alles unendlich da ist, sondern Ressourcen knapp sind. Wir sollten diese Tatsachen anerkennen und nicht versuchen, sie zu verdrängen. Nur dann haben wir eine Chance.