Das rote Dorf

Warum ist den meisten Ortsbewohnern und erst recht den Ortschronisten das Alter ihrer Siedlung so wichtig? Warum stochern sie in einer fernen Vergangenheit herum, die uns so wenig wie nur möglich hinterlassen hat? Eigentlich sind es nur zwei Informationen: die Lage der Siedlung und ihr Name. Beide können trügerisch sein. Dann gibt es noch die ersten "urkundlichen Erwähnungen". Klingt irgendwie seltsam und ist es auch. Denn die "ersten urkundlichen Erwähnungen" sind meist gar keine. Es sind zufällige Überreste einer einst komplizierten Geschichte, die wir heute nur noch ansatzweise verstehen können. Urkunden sollen, wie der Name schon sagt, etwas beurkunden. Im Mittelalter waren das, wie heute, Rechtsgeschäfte. Aber welche? Wir erfahren etwas über Personen und Orte, müssen sehr detailliert Beziehungen rekapitulieren und immer auch ein wenig, nur ein wenig, spekulieren.

Die Orte, unsere Dörfer, sind dabei immer nur Gegenstände, sie werden verkauft, verpfändet, vererbt. In den Urkunden sind es nur Namen, selten erfahren wir mehr. Natürlich verbarg sich hinter diesen Namen mehr, aber wir wissen nicht, was das war. Wir könnten nur spekulieren oder uns mit dem Wenigen zufrieden geben. Schwierig wird es aber, wenn selbst dieses wenige noch unscharf ist. Im Falle Krainhagens ist genau das der Fall. Zunächst die Siedlungslage: Krainhagen liegt am Westhang der Bückeberge, etwa 175 m hoch mit weitem Blick Richtung Minden und in die westfälische Tiefebene. Eine derart hoch liegende Siedlung kann nicht alt sein, zu schlecht sind die Siedlungsbedingungen: Kein guter Acker, dessen Land bei starkem Regen auch noch abfließt, kalte Winter, kurze Sommer - selbst 100 m wirken sich hier schon aus. Der Name verweist ebenfalls auf ein junges Alter: Orte mit der Endung auf -hagen entstanden meist erst im hohen Mittelalter. Damals war die Witterung günstig, die Ernten stiegen und mit ihnen die Bevölkerung. Bald waren die vorhandenen Siedlungen zu klein, neue wurden angelegt. Unternehmungslustige und aufstiegswillige Herren organisierten gern die Anlage neuer Dörfer, konnten sie damit doch ihr Herrschaftsgebiet ausweiten. Da man dort hingehen musste, wo bislang niemand hatte siedeln wollen, galt es Überzeugungsarbeit zu leisten, d.h. den Siedlern wurden Vergünstigungen gewährt, die es in den vorhandenen, alten Dörfern nicht gab. Die Kolonisten waren freie Leute, sie hatten kaum Abgaben oder Dienste zu entrichten an ihre Herren, sie durften über ihre grundlegenden Belange selbst Recht sprechen. Schließlich profitierten sie von regelmäßig angelegten Siedlungen mit eindeutig zugewiesenen Landflächen. Dafür galt es, sich mit schlechteren Böden, mehr noch mit nassen Böden und großen Wäldern herumzuschlagen, die in jahrelanger, mühevoller Arbeit gerodet und trocken gelegt werden mussten. Hagenhufenbewohner waren damit etwas Besonderes und sie hielten sich darauf bis in das 19. Jahrhundert auch etwas zugute.

Sollte Krainhagen auch ein solches Hagenhufendorf sein? Immerhin gibt es aus dem frühen 13. Jahrhundert einen Hinweis auf ein Kreyen- oder Krekenhagen, ganz in der Nähe des Stifts Obernkirchen. Warum sollte das Stift nicht versucht haben, in der Nähe oberhalb des älteren Röhrkasten eine neue Siedlung anzulegen, um den eigenen Einflussbereich zu vergrößern? Ein Versuch konnte das wert gewesen sein, nur blieb er erfolglos. Von diesem Kreyenhagen hören wir die nächsten Jahrhunderte nichts mehr. Vielleicht waren selbst in diesem unternehmungslustigen 12. Jahrhundert die Rahmenbedingungen für eine dauerhafte Ansiedlung an dieser Stelle zu schlecht, jedenfalls waren die Bedingungen 150 Jahre, Mitte des 14. Jahrhunderts, noch schlechter. Was auch immer da war, es hatte keine Zukunft.

Die kam erst später, wohl gegen Ende des 18. Jahrhunderts. Damals ließen sich einige Leute hier nieder. Woher sie kamen, bleibt unklar, jedenfalls nicht aus dem benachbarten Röhrkasten. Es waren Kleinstellenbesitzer, die zwar auch ein wenig Land bewirtschafteten, ihren Lebensunterhalt aber wohl von anderem, meist Handwerk und Tagelohn, bestreiten mussten. Sie dürften sich so eben durchgeschlagen haben. Dass es Ende des 16. Jahrhunderts hier zu einer Siedlung von Kleinstellenbesitzern kam, passt wiederum ins Bild, denn es war eine Zeit schnellen Bevölkerungswachstums und irgendwo mussten die Menschen bleiben. So entstanden überall dort, wo noch etwas freies Land zur Verfügung stand, wieder kleine Dörfer, wie eben "unser" Krainhagen.


Danach gibt es nicht wirklich viel zu berichten, man schlug sich eben so durch. Die Rahmenbedingungen waren nicht gut, wie schon erläutert, auf die Idee, sich in den Kontext der Protoindustrie einzureihen und sich auf exportorientierte Heimarbeit zu spezialisieren, wie wir das in anderen Bergdörfern beobachten können, kam seltsamerweise auch niemand. So lebten in wenigen Häusern um 1800 nicht einmal 100 Menschen. Doch dann änderte sich fast schlagartig alles. Die schlechte Lage mutierte fast über Nacht zu einer ausgezeichneten: Die Bückeberge boten nämlich nicht nur kalte Winter und Sommer, sondern auch viel Holz, Steinkohle und Aufwinde: alles Zutaten für die frühe Glasindustrie. Die etablierte sich zwar nicht in Krainhagen - obwohl, beinahe wäre auch das der Fall gewesen - sondern im benachbarten Obernkirchen, aber sie veränderte das Dorf grundlegend. Zunächst ließen sich hier allerdings vornehmlich Bergleute nieder, die in den Stollen des Bückebergs arbeiteten. Die Glasindustrie benötigte noch nicht ganz so viele Arbeiter. Doch die Glashütten waren wichtige Abnehmer der Steinkohle der Bückeberge und förderten damit den Ausbau des Bergbaus. Orte wir Krainhagen lagen in optimaler Nähe zu den neuen Industrieanlagen und zogen immer mehr Bewohner an. Nicht, dass dadurch gleich Städte entstanden - die Schaumburger Industrialisierung bewegte sich in bescheidenen Bahnen. Aber immerhin stieg die Einwohnerzahl das gesamte Jahrhundert über kontinuierlich an. Und sie stieg weitaus schneller an als im Durchschnitt des Kreises Schaumburg. Dort erhöhte sich die Einwohnerzahl zwischen 1821 und 1848 um 35 %, in Krainhagen um 245 %. Danach ging es weiter aufwärts, die Mitte des 19. Jahrhunderts, die Zeit der Amerikaauswanderung verlangsamte das Wachstum etwas, aber 1905 lebten knapp 580 Menschen in dem Dorf, sechsmal so viele wie einhundert Jahre zuvor, mehr als doppelt so viele wie in der Jahrhundertmitte.

Die Bedeutung ergibt sich erst, wenn man diese Daten mit denen anderer Dörfer vergleicht. Deren Rhythmus war im 19. Jahrhundert oft ein anderer: schneller Anstieg bis Mitte des Jahrhunderts, dann Rückgang oder höchstens Stagnation bzw. leichter Anstieg. In Krainhagen und einigen Nachbarorten sorgte die Industrialisierung für einen schnellen Anstieg, der sich bis in das 20. Jahrhundert fortsetzte. Damit wurde dieser Ort zu einer Arbeiterwohngemeinde, wie die statistische Definition heißt, klingt ein wenig wie Dorf zweiter Güte, und hatte weitreichende Folgen für die dörfliche Sozialstruktur und die dörfliche Kultur. Nun war es nicht so, dass nur Sozialdemokraten in dem Dorf wohnten, aber doch sehr viele. Sie profitierten davon, dass sie nicht in kleinen Betrieben beschäftigt waren, sondern in wenigen Großbetrieben, dem Bergbau und in zwei Glashütten in Obernkirchen. Dort setzte in den 1890er Jahren ein gewerkschaftlicher Organisationsprozess ein, zunächst bei den Bergleuten. Ausgehend von den Streiks im Ruhrgebiet von 1889, die schnell auf viele Betriebe im Reich übersprangen, wurden für den ersten reichsweiten Verband der Bergarbeiter sogenannte Zahlstellen errichtet und für die SPD in den Reichstagswahlen Werbung gemacht. Die Glasmacher folgten etwas später. Sie fühlten sich um 1900 immer noch als halbselbständige Handwerksmeister, ohne deren starken Arm tatsächlich nichts ging. Sie waren hochspezialisierte Arbeiter, die davon ausgingen, dass auch bei stärkerer Mechanisierung ihre spezifischen Fähigkeiten, Glas zu blasen, nicht durch Maschinen ersetzt werden könnten. Welche fatale Fehleinschätzung! Der Versuch, eine gewerkschaftliche Organisation als Vertreter der Glasmacher gegenüber dem Fabrikbesitzer durchzusetzen, führten erst zu einem lokalen, dann einen reichsweiten Streik und endete mit einer doppelten Niederlage. Es konnten nicht nur die anvisierten Ziele nicht erreicht werden, sondern die Hüttenbesitzer hatten den Streik zum Anlass genommen, in Patente für die damals gerade erst in den USA eingeführten Glasmaschinen zu investieren. Diese revolutionierten in der Hohlglasindustrie binnen weniger Jahre die Produktionsweise und ließen die alten Glasmacher zu Angehörigen einer aussterbenden Zunft werden.

Für Krainhagen dürfte sich diese Wendung allerdings positiv ausgewirkt haben. Die Glasmacher, die Elite der auf der Hütte beschäftigten Arbeiter, hatten immer in direkter Nähe zu den Hütten gewohnt. Um 1900 war für sie sogar eine eigene Arbeitersiedlung angelegt worden. In den umliegenden Dörfern arbeiteten dagegen nur die Hilfsarbeiter und die Korbmacher, die die Körbe flochten, welche die sogenannten Demijohns, große Glasballons für alle möglichen, auch chemischen Flüssigkeiten, schützten. Mit der Mechanisierung der Hütten und dem schon zuvor realisierten gleichmäßigen Produktionsprozess der Fabrik, konnten sich auch immer mehr Glasarbeiter in Orten wie Krainhagen ansiedeln. Auf diese Weise wurden die Abwanderungen der Bergleute aufgefangen. Die Zahl der Bergleute in Obernkirchen nahm ab, weil im weiter ab gelegenen Stadthagen eine neue moderne und zentrale Schachtanlage kurz nach 1900 entstanden war, die fortan der zentrale Betriebspunkt für den Schaumburger Bergbau wurde (der Georgschacht).

In der dörflichen Realität spiegelten sich diese Prozesse in unterschiedlicher Weise wieder. Zum einen entstanden die typischen Einrichtungen der Arbeiterbewegung, die "Schnapskasinos", wie sie von der Obrigkeit genannt wurden, die Konsumläden. Hier gab es Grundnahrungsmittel zu billigen Preisen zu kaufen und eben auch Alkohol. Zugleich beschäftigten Konsumläden Mitarbeiter, so dass sie für Gewerkschaftler, die bei normalen Arbeitgebern keine Chance auf eine Anstellung hatten, eine Existenz ermöglichten. Andere solcher Existenzsicherungen für aktive Gewerkschaftler und Sozialdemokraten waren eigene Gastwirtschaften oder die Arbeit als Redakteur. Einige der Krainhäger waren auch in den Zahlstellen der Bergleute engagiert und sie wählten auch sozialdemokratisch.

Vereine, zumindest einen Radsportverein gab es auch. Darüber hinaus dürfte sich für die Frauen das Leben im Arbeiterwohnort insofern besser als in "normalen" Dörfern gestaltet haben, weil der Zwang "beim Bauern" zu arbeiten, entfiel. Aus späterer Zeit liegen ausführliche Einwohnerlisten vor, die belegen, wie ansonsten die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung umgesetzt wurde: Mit der Heirat blieben die Frauen zuhause, übernahmen die Versorgung der Kinder und führten den Haushalt. Das war hier allerdings mühseliger als andernorts. Nicht nur, dass Hausarbeit immer auch Gartenarbeit einschloß, sondern aufgrund der Hanglage gab es in vielen Haushalten nicht einmal Brunnen, sondern das Wasser musste aufwendig in Tragen aus dem nächsten Bach geholt werden. Neben dieser nur in Ansätzen erkennbaren Arbeiterkultur gab es in Krainhagen allerdings auch die nationalistische bürgerliche Kultur, in der u.a. die Angehörigen der kleinen bäuerlichen und kleinbürgerlichen Schicht des Ortes sowie des Nachbarortes Röhrkasten vertreten waren. Nachweisbar ist zumindest ein aktiver Kriegerverein. Die große Zeit der organisierten Arbeiterbewegug bildeten aber die 1920er Jahre. Sie ltten nicht mehr unter behördlichen Schikanen und profitierten von einem gleichen und geheimen Wahlrecht für alle Körperschaften, nicht mehr nur die Reichstagswahlen. Die Weimarer Republik war zudem durch den Zerfall der Arbeiterbewegung gekennzeichnet. Mit der KPD entstand ein neuer, aggressiv auftretender Akteur, der die SPD immer vehementer bekämpfte. Das galt auch für dieses Dorf.

In der Kleinstadt Obernkirchen, Standort der Glasindustrie und einer großen Bergwerksanlage, hatte sich neben der SPD auch die KPD etabliert und verfügte über ihren besten Mann, den Schuhmacher Karl Abel, der gegen Ende der Republik sogar Abgeordneter im preußischen Landtag wurde. Abel war in und um Obernkirchen beliebt und sorgte für hohe Wählerzahlen für seine Partei. In Krainhagen lag bei den letzten wirklich freien Wahlen im November 1932 die KPD sogar leicht vor der SPD, beide zusammen errangen über 2/3 aller Stimmen. Die NSDAP blieb hier bis zum März 1933 eine kleine Partei. Abels Stil war aggressiv und polemisch, ein Auszug aus einer damals verbreiteten Schrift mag das belegen. Sie entstammt einer 1929 veröffentlichten Schrift über die Verwaltung im Kreis Grafschaft Schaumburg:

„Die Bergarbeiter haben ein besonders schweres Los. Auch für die Arbeiter der Glas- und Steinindustrie sowie für die Saisonarbeiter der Ziegeleibetriebe und für die Arbeiter aus den Korbflechtereien blüht in unserem Kreise der Weizen nicht. Bei ungemein schwierigen Arbeitsverhältnissen verdienen alle Kategorien einen kärglichen Lohn, so dass sie gezwungen sind, neben ihrer schweren Berufsarbeit ihre Lebensmittel selbst zu ziehen. Sie haben nicht nur hohe Pachtsummen an die Großagrarier zu zahlen, sondern auch die Frauen müssen sich den Ausbeutern als billige und willige Arbeitskräfte jederzeit zur Verfügung zu stellen. In der Vorkriegszeit waren diese ausgebeuteten Volksgenossen den politischen und gewerkschaftlichen Organisationen der Arbeiter zum Teil schwer zugänglich, denn eine „Königliche Bergbauinspektion“ wachte mit Argusaugen darüber, dass sich kein Kumpel irgendwelchen „umstürzlerischen“ Bestrebungen hingab.“

Die Geschichte dieses Ortes ist also allein schon deshalb anders, weil hier nicht nur Bauern etwas zu sagen hatten, sondern auch einfache Arbeiter, die das Dorf bis 1933 prägten. Danach allerdings scheinen sich die NSDAP und der Nationalsozialismus auch hier gut etabliert zu haben. Doch das soll an dieser Stelle nicht behandelt werden, sondern ein zweiter Aspekt dörflicher Geschichte, der sich am Beispiel Krainhagens besonders gut erläutern läßt, wobei Seitenblicke auf andere Dörfer geworfen werden können. Diese Geschichte beginnt eigentlich schon im frühen 19. Jahrhundert, setzt aber eigentlich erst 1946 ein. Sie beginnt in diesem Fall, im Kurfürstentum Hessen-Kassel, im Jahre 1831 als eine Landgemeindeordnung zur Einrichtung von Gemeinderäten und der Wahl von Bürgermeistern führte. Zum ersten Mal gab es eine organisierte Gemeindevertretung mit geregelten Rechten. Von der konkreten Arbeit dieser frühen Jahre wissen wir nicht viel. Etwas mehr wissen wir von den Gemeindeverwaltungen im Kaiserreich, als die Aufgaben der Gemeinde nach und nach zunahmen. Die Gemeinderäte wurden allerdings noch nicht völlig frei gewählt, sondern nach einem Klassenwahlrecht, das den Grundbesitz massiv bevorteilte. Das änderte sich in den 1920er Jahren. Allerdings scheinen die Aktivitäten der Gemeinderäte in dieser Zeit auch eher verhalten gewesen zu sein, wobei aus Krainhagen die Hilflosigkeit in der Endphase der Republik in Erinnerung bleibt, als man immer mehr Bedürftigen gegenüberstand, denen man nicht helfen konnte. Erst das Kriegsende und der Beginn der Bundesrepublik änderten diese Verhältnisse. 1946 waren in der britischen Besatzungszone die ersten Kommunalwahlen nach einem demokratischen Wahlrecht durchgeführt worden. Die damaligen Akteure standen vor einem riesigen Berg an Problemen. Das größte: Die schnell wachsende Zahl an Flüchtlingen und Vertriebenen, die irgendwie untergebracht werden mussten. Die Krainhäger Protokollbücher vermögen die Dramatik jener Zeit nur ansatzweise wiederzugeben, besser sieht das bei denen aus Ahrbergen aus, die deshalb stellvertretend hier zitiert werden sollen:

3.2.1949: „Auf Grund zahlreicher Wohnungsbegehungen hat die Kommission verschiedene Vorschläge auf Umlegungen und Neubeschlagnahmungen unterbreitet, die aber infolge sich ergebender Schwierigkeiten nur teilweise durchgeführt werden konnten. Für die kommende Woche hat das Amtsgericht Hildesheim die Zwangsvollstreckung von 3 Räumungsurteilen angekündigt, deren Durchführung mangels Ersatzwohnraum kaum möglich sei. Der Ausschuß-Vorsitzende, Heinrich Jünemann, führte zum Schluß aus, daß der Ausschuß beabsichtigte, die unterschiedliche Belegung von Wohnraum durch Umlegungen auszugleichen.”
Aus Krainhagen gibt es entsprechende mündliche Berichte. Die Bürgermeister waren damit beschäftigt, nacheinander einzuweisen, Räumungsklagen umzusetzen und wieder einzuweisen. Der Kampf um den Wohnraum prägte die Arbeit der Gemeindevorstände in den ersten Jahren nach dem Krieg. Mit dem Zuzug der Flüchtlinge (und der Heimkehr der Kriegsgefangenen) waren viele weitere Probleme verbunden, wie die Sicherung der Gesundheit, die Schaffung von sogenanntem Grabeland, die Herstellung eines Gemeinschaftsgefühls und anderes. Während bis 1945 die Gemeindevertretungen nur in Ausnahmefällen so etwas wie Kommissionen kannten, war deren Arbeit jetzt durch eine Vielzahl von Kommissionen geprägt. So gab es in Krainhagen 1948 einen
- Wohnungsausschuss
- Finanzausschuss
- Fürsorgeausschuss
- Wegebauausschuss
- Sportplatzausschuss
- Verbraucherausschuss
- Ernährungs- und Ablieferungsausschuss

Die Anforderungen an Gemeinderat und Bürgermeister stiegen damit erheblich an. Eine Reaktion darauf bildete die Etablierung eines Gemeindedirektors. Er sollte eine stärkere Professionalisierung der Verwaltung sicherstellen. In Krainhagen gelang es jedenfalls, die Gemeinde durch diese hohen Anforderungen zu führen und den Professionalisierungdruck aufzufangen. Aus Ahrbergen wissen wir, dass es dort am Ende nicht gelang. Die zahlreichen Aufgaben führten zu einer erheblichen Erhöhung der Ausgaben und damit zu einer Vervielfachung des Gemeindeetats. Diese Erhöhung der Ausgaben lag auch daran, dass nicht nur Flüchtlinge und Vertriebene untergebracht werden mussten, sondern die Anforderungen an die Lebensqualität in den Dörfern deutlich anstiegen. Die zahlreichen neuen Dorfbewohner, beginnend mit den Evakuierten des Krieges, dann die oft aus Städten stammenden Flüchtlinge und Vertriebene sahen voller Erschrecken, wie rückständig die meisten Dörfer allein in Fragen der Hygiene waren. Zwar gab es elektrisches Licht; fließendes Wasser war allerdings meist unbekannt, ebenfalls eine Kanalisation. Die Dorfstraßen waren zudem mehr oder weniger unbefestigte Wege. In den Haushalten sah es nicht besser aus. Moderne Küchen waren ebenso unbekannt wie Badezimmer; Waschküchen, Kochherde und Plumpsklos dominierten und sorgten für Irritation bei den Neubürgern. Es gab also einen massiven Modernisierungsdruck, der sich bei den landwirtschaftlichen Betrieben fortsetzte. Modernisierungen hatte es seit den 1920er Jahren kaum oder gar nicht gegeben. Das Reichserbhofgesetz der Nazis hatte zwar das Verschuldungsproblem gelöst, jedoch Investitionen erfolgreich unterbunden, der Krieg hatte diese Situation noch einmal verschlechtert. Hinzu kam die allgemeine, durch den Nationalsozialismus und den Krieg ausgelöste Mobilisierung der Gesellschaft. Nicht nur, dass die Zahl der Menschen, die geradezu vagabundierend durch die Lande zogen und nach einer neuen Existenz suchten, sondern die alten Normen und Werte waren oft nichts mehr wert. Evakuierte Frauen hatten sich nicht um die harten sozialen Normen der Dörfer bzw. der Bauern gekümmert, Flüchtlingsfrauen konnte man vielleicht vorübergehend zur Landarbeit zwingen, aber nicht dauerhaft. Die Menschen wanderten schon früh aus der Landwirtschaft ab und suchten nach neuen Chancen. Die Bauernhöfe brauchten dringende Modernisierung.

In Krainhagen sah es so ähnlich aus, wie in vielen niedersächsischen Dörfern. Es kam aber noch etwas hinzu. Es gab einen bemerkenswerten Neuaufbau des Dorfes. Er ist mit einem Namen verbunden, mit Ernst-August Kranz. Kranz kam aus einer alten eingesessenen Familie, schon sein
Vater war Bürgermeister gewesen.

In den 1930er Jahren war der junge Kranz begeistertes Mitglied in der HJ, jedenfalls deuten das Fotos von ihm an. Während des Krieges war er Soldat und hatte nicht nur das Glück, den Krieg unbeschadet überstanden zu haben, sondern schon 1945 wieder nach Hause zu kommen. Sogleich entfaltete er eine bemerkenswerte Aktivität. Zuerst gründete er einen Sportverein, den SV 45. Als Nächstes kämpfte er für einen neuen Sportplatz und konnte als Architekten dafür Werner March gewinnen, der zu dieser Zeit in Minden am Wiederaufbau des Doms beteiligt war und die kleine Aufgabe, die Bauzeichnung des Sportplatzes zu machen, offenbar gern übernahm. Das aber reichte immer noch nicht. Folgt man den Erinnerungen und Erzählungen von Kranz, so wollte er ein neues Dorf. Das alte sozialdemokratische Dorf lehnte er ab, die alten Männer, die nicht in den Krieg ziehen mussten, fanden nur seine Verachtung; so weiter machen, wie vor dem Krieg, kam auch nicht in Frage. Aber was dann? Krainhagen sollte nicht mehr das rote und auch nicht das arme Dorf bleiben, er wollte einen Neuanfang. Wir wissen erstaunlich wenig über das, was in unseren Dörfern am Beginn der Bundesrepublik stattfand. Es spricht aber einiges dafür, dass in dieser Zeit, Ende der 1940er und zu Beginn der 1950er Jahre, häufig versucht wurde, einen Neuanfang zu wagen und eine neue Perspektive für das eigene Dorf zu finden. In Ahrbergen können wir ähnliche Prozesse beobachten. Eigentlich ist das gar nicht überraschend, denn die Instrumente und die theoretischen Grundlagen waren vorhanden. Der Nationalsozialismus glaubte an die Planbarkeit von Gesellschaft sowohl durch Architektur wie durch Städtebau. Er hatte dabei eine gnadenlose Unmoral entwickelte. Aber wenn man diese wegnahm? Und außerdem: Was wurde eigentlich aus den vielen Planern und Architekten, die nun nicht mehr ein großdeutsches Reich planen konnten? Wie weit dies alles gehen konnte, zeigt der Bebauungsplan, der 1949 in Ahrbergen vorgelegt wurde (Kreisarchiv Hildesheim Best. 10 Nr. 112). Dort heißt es etwa:

"Die Freihaltung des West-, Ost- und Nordostrandes vom Dorf Ahrbergen durch jede neue Bebauung ist Voraussetzung für die Erhaltung des bäuerlichen Charakters des Dorfes. Wenn auch die Gebäude in den erwähnten Teilen nicht überall gleich alt und gleich gut sind, so bieten sie doch den Anblick einer geschlossenen bäuerlichen Siedlung. Der Blick von Norden und Nordosten auf das Dorf ist, duch die Verkehrslage bedingt, besonders wertvoll, während der Blick aus Richtung Westen der weitaus schönste ist. Außerdem sollte den Bauern des Dorfes nicht zugemutet werden, daß ihr Hof durch einen Kranz städtischer Siedlungen von ihrer Feldflur abgeschnitten wird. Da der Ost- und Südrand des Dorfes bereits stark mit Häusern städtischen Charakters durchsetzt ist, wird hier eine Ausfüllung der Lücken vorgeschlagen. Auf der Sülteworth sollen in enger Anlehnung an das Altdorf die neuen öffentlichen Gebäude (Gemeindehaus usw.) in der Art eines Gemeindeplatzes entstehen. Unter Ausnützung des Blickes in der Leineniederung ist am Westrand der Sülteworth ein öffentlicher Sitzplatz und ein Gasthaus geplant. Die eigentliche Wohnsiedlung Ahrbergen ist abseits des Altdorfes am Westrand der Reichsstraße..."

Bei der Planung spielt der Aspekt der Eigenversorgung aus den Gärten eine wichtige Rolle; bei 400 qm Nutzfläche rechnet man mit 400 kg Obst und 400 kg Gemüse, damit könnte eine vierköpfige Familie versorgt werden, Häuser sollen durch Mauern verbunden und nur einstöckig gebaut werden. Eine Typisierung der Siedlerhäuser wurde ebenfalls vorgeschlagen. Und dann fahren die Autoren fort: 

„Der tiefste Sinn der geplanten Wohnsiedlung soll sein, den uns verbliebenen geringen Lebensraum so intensiv auszunutzen, daß unser Volk wieder ein ihm gebührenden Lebensstandard erreichen und auch dem "bodenlosen" Menschen wieder Heimat und Scholle gegeben werden kann." (Auszug aus Denkschrift der Hochschule für Gartenbau und Landeskultur)


Für mich sind Sätze wie diese doppelt erschrecken: Volksgemeinschaft (erinnern Sie sich noch an die Verwendung des Begriffs bei dem Kommunisten Karl Abel?) und Lebensraum und die Scholle werden beschworen, so, als sei nichts gewesen. Andererseits klingt vieles schon wie ein Vorgriff auf Dorferneuerungsmaßnahmen der 1980er oder 1990er Jahre - wenngleich die Scholle später nicht mehr beschworen wird. 

Aus Krainhagen sind Sätze wie diese nicht überliefert und Kranz, der nach dem Sportverein eine Wählergemeinschaft gründete und dank dieser zum Bürgermeister gewählt wurde, dachte auch nicht in Richtung Bauerntum und Scholle. Da war er moderner. Krainhagen war kein Bauerndorf und - so viel war schon um 1950 klar - daraus würde auch nie ein Bauerndorf werden! Was aber dann? Die Antwort, die er fand, verweist schon auf das Wirtschaftswunder. Kranz wollte aus seinem Wohnort einen hochwertigen Wohnort für Besserverdienende machen. Er ging die Sache systematisch an. Die völlig unzureichende Infrastruktur verhinderte jede hochwertige Wohnnutzung. An erster Stelle stand eine Wasserleitung, um die beschriebenen extrem schwierigen Wasserverhältnisse lösen zu können. Die Krainhäger kämpften damit schon seit den 1920er Jahren und hatten sogar Verbündete, die benachbarte Gemeinde Röhrkasten. Allerdings waren die Kosten für die beiden Gemeinden zu hoch, so dass alle Anstrengungen erfolglos blieben. Nach dem Krieg und während einer der Kohlenkrisen versuchte man es erneut und gründete eine Notbergbau-GmbH. Die Idee war, mit dieser GmbH so viel Geld zu erwirtschaften, um daraus ein Wasserwerk finanzieren zu können. Auch dieser Versuch schlug fehl. Erst unter Kranz gelang der Kraftakt, auch dank staatlicher Hilfe. Wasserwerk ohne Kanalisation machte allerdings keinen Sinn und so musste auch diese kommen. Kranz, der zuvor geschickte Transaktionen realisiert hatte, gelang auch dies wieder mit einem Trick. Es gab noch alte Hand- und Spanndienste, die alle Bürger der Gemeinde zu entrichten hatten. Sie waren allerdings lange nicht eingefordert wurden. Kranz tat genau das, zwar gab es Murren und Klagen, aber Krainhagen erhielt trotz der schlechten Bodenverhältnisse schon Mitte der 1950er Jahre seine Wasserleitung und seine Kanalisation. Ein Grundstein für das neue Dorf war gelegt. An dem weiteren Aufbau arbeitete er über Jahrzehnte. Zudem gelang ihm der Aufstieg zum Landrat seines Landkreises. Das Ziel, aus dem armen und oft bemitleideten Krainhagen ein Vorzeigedorf zu machen, war Anfang der 1970er Jahre erreicht.

Dann kam die Gebiets- und Verwaltungsreform. Sie wurde schon seit der Mitte der 1960er Jahre vorbereitet und hatte sicher auch gute Gründe, wie die zunehmende Überforderung vieler Gemeinden durch die zahlreichen, kostenintensiven Aufgaben. Gemeinde, die aber den Professionalisierungsdruck erfolgreich bestanden hatten, standen dagegen nun plötzlich schlecht da. Krainhagen gehörte zu diesen Gemeinden. Die Gebiets- und Verwaltungsreform stellte einen tiefen Einschnitt in die dörfliche Selbstverwaltung dar. Sie führte nicht nur zum Ende mancher Ortsnamen, sondern sie beendete eine wichtige Phase kommunaler Selbstverwaltung. Das mochte aus der Sicht mancher Landespolitiker einfach wie ein simpler Schnitt erscheinen, aus der Perspektive, die hier angedeutet wurde, war es mehr: Selbstverwaltung, die wirklich etwas bewegen konnte, gab es genau genommen erst nach 1946. Die Leistung vieler Gemeinden beim Wiederaufbau und Neuaufbau des Landes dürfte erheblich gewesen sein. Zu den genannten Leistungen bei der Errichtung einer modernen Infrastruktur, die die Lebens- und Wohnverhältnisse auf dem Lande nach und nach städtischen Standards annäherte, muss vor allem noch der Schulbau genannt werden, der ebenfalls 20 Jahre Stillstand ausgleichen musste und das Ziel, der Dorfbevölkerung eine moderne Bildung zu vermitteln, erreichbar werden ließ. Diese Phase intensiver örtlicher Selbstverwaltung wurde nach knapp 30 Jahren schon wieder beendet. Damit endete aber auch die Phase kreativer kleiner Dörfer und aktiver Bürgermeister.

Belege:
Zu Krainhagen wird gerade eine größere Dorfgeschichte erarbeitet, für die ich die historischen Texte geschrieben bzw. redigiert habe. Die meisten Quellen zu Krainhagen finden sich in einem für die Zeit ab 1850 erstaunlich umfangreichen Ortsarchiv, das vor mir mit anderen älteren Krainhägern Anfang der 1990er Jahre erschlossen und verzeichnet wurde.
Einiges zu den Entwicklungen im 19. Jahrhundert findet sich in meinen Studien zur Industrialisierung in Schaumburg:
Schneider, Karl Heinz: Schaumburg in der Industrialisierung. Bd. 1: Vom Beginn des 19. Jahrhunderts bis zur Reichsgründung, Melle 1994 (Schaumburger Studien 54). Teil 2. Von der Reichsgründung bis zum Ersten Weltkrieg., Melle 1995 (Schaumburger Studien 55).

Das Zitat von Karl Abel entstammt:
Abel, Karl: Als Sozialist und Kommunist unter vier Regimes: die Memoiren des ersten niedersächsischen Sozialministers Karl Abel (1897 - 1971), Bielefeld 2008.

Eine eindrucksvolle Studie über die Lebensverhältnisse in kleinbäuerlichen Dörfern bietet:
Dietze, Constantin: Lebensverhältnisse in kleinbäuerlichen Dörfern : Ergebnisse einer Untersuchung in der Bundesrepublik 1952, Hamburg [u.a.] 1953.
Eine Folgestudie 20 Jahre später belegt nicht nur den enormen Fortschritt, sondern auch die hohen finanziellen Kosten der Modernisierung:
Deenen, Bernd: Lebensverhältnisse in kleinbäuerlichen Dörfern : 1952 und 1972, Münster-Hiltrup 1975.

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